Die Tatarin
Sternenzelt in selten gesehener Pracht über sich prangen. Als Tochter der Steppe wusste sie den Himmel zu lesen, und ihr war klar, dass die Sonne in weniger als einer Stunde über dem Horizont erscheinen würde. Da es ihr davor graute, ins überfüllte Zelt zurückzukehren, setzte sie sich auf eine Trommel, die ein schwedischer Trommelbub vor dem Zelt liegen gelassen hatte, und blickte hinauf zum Firmament.
Ihre Gedanken galten Sergej, aber auch dem verwirrenden Traum, den sie eben durchlebt hatte. In einem Jurtenlager aufgewachsen, war ihr durchaus bewusst, was Männer und Frauen des Nachts miteinandertrieben, doch das hatte sie nie interessiert. Nun war sie ihren zwiespältigen Gefühlen hilflos ausgeliefert. Zum einen sehnte sie sich danach, Sergej im Arm zu halten und seine Nähe zu spüren, gleichzeitig hatte sie Angst davor. Nach einer Weile lachte sie über sich selbst, denn es würde niemals zu einer weiteren Begegnung mit ihm kommen. Sie hatte Sergej und die Russen verraten und damit den Teppich zwischen ihnen zerschnitten. Sergej würde wohl bald gegen die vorrückenden Schweden kämpfen und wahrscheinlich getötet werden. Dieser Gedanke löste ihre Probleme jedoch nicht, sondern machte sie noch schmerzhafter, und sie verfluchte den Tag, an dem der Krieg zwischen Russen und Schweden ausgebrochen war.
In der Morgendämmerung erwachte das Lager um sie herum, und die Schweden machten sich mit einer beängstigenden Eile daran, die Zelte abzubrechen und die Bagagewagen zu beladen. Während die Kochfeuer aufloderten, wurden bereits die Pferde vor die Kanonen gespannt, und kurz darauf verließ der Vortrab unter General Carl Gustav Roos das Lager. Seine Dragoner hatten nicht einmal frühstücken dürfen, sondern mussten ihre Morgenmahlzeit im Sattel zu sich nehmen. Auch dem König fehlte die Geduld, sein Frühstück in Ruhe zu verzehren, er brach kurz nach Roos mit der ersten Abteilung des Haupttrupps auf, nachdem er den Rest des Heeres noch einmal zur Eile angetrieben hatte.
Der Truppenteil, dem Kirilin und seine Leute zugewiesen worden waren, machte sich als einer der letzten auf den Weg. Schirin ritt auf Goldfell, der sich zu freuen schien, seine Kräfte wieder regen zu dürfen, und mehr als einmal übermütig den Kopf hochwarf. Es kostete sie mehr Mühe als sonst, ihn in den Griff zu bekommen, und sie musste sich von Schischkin anraunzen lassen, weil Goldfell mit einem Mal tänzelnd seitwärts ging und gegen das Pferd des Russen stieß. Die Szene erinnerte Schirin sofort wieder an Sergej, der in einem solchen Fall lachend geraten hätte, die Zügel fester in die Hand zu nehmen und die Augen offen zu halten, und sie musste gegen die Tränen ankämpfen, die in ihr aufstiegen.
VI.
Carl XII. marschierte nicht geradewegs nach Osten, sondern versuchte, den russischen Gegner mit überraschenden Richtungswechseln zu verwirren. Seine Taktik war von Erfolg gekrönt, denn als das Heer nach einer guten Woche auf den Dnjepr traf, war das gegenüberliegende Ufer frei von Feinden, die das Übersetzen erschweren und den Schweden starke Verluste hätten beibringen können. Pjotr Alexejewitsch erfuhr erst zwei Tage später, dass die Schweden auf ihrem Weg nach Moskau die Straße nach Smolensk gemieden und den Dnjepr ein Stück weiter im Süden überschritten hatten.
Sergej, der diese Nachricht nach Smolensk brachte, hatte zornige Flüche und Verwünschungen erwartet. Stattdessen kniff der Zar die Lider zusammen und starrte ihn durchdringend an.
»Ist es sicher, dass Carls Heer bereits östlich des Dnjepr weilt?« Die Frage klang wie ein Pistolenschuss.
Sergej schluckte nervös und versuchte sich noch einmal an das zu erinnern, was er aus der Ferne gesehen hatte. Dann nickte er etwas zögernd. »Jawohl, Euer Majestät! Roos’ Vorhut und König Carls Trabantengarde sind vorgestern über den Strom gegangen, und gestern sind ihnen Rehnskjölds schwere Kavallerie und die restlichen Abteilungen gefolgt.«
Ohne Sergej weiter zu beachten, drehte der Zar sich zu Menschikow um. »Wo befindet sich Lewenhaupts Tross?«
»Derzeit etwa noch hundert Werst nordwestlich des Dnjepr«, antwortete dieser sichtlich irritiert, denn in Gedanken war er alle Möglichkeiten durchgegangen, die den Schweden nun offen standen, und hatte nur die Gefahr gesehen, die vom Hauptheer der Gegner ausging.
Der Zar sonnte sich einen Augenblick in der Verblüffung seines Freundes und schlug Menschikow dann lachend auf die Schulter. »Einhundert Werst,
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