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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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vor, jeden Augenblick wachsam zu sein, damit sie sich nicht durch eine Nachlässigkeit verriet. Sie kletterte über die beiden unteren Betten hinauf, ohne Ilgur einer Antwort zu würdigen, und beraubte ihn damit eines Teils seines Triumphs. Verärgert erkannte er, dass sie ihn von dort oben mit dem Säbel in Schach halten konnte. Er würde kämpfen müssen, um seine jetzige Stellung zu behalten, und er begannsofort damit, indem er einen der jüngeren Burschen, der neben ihm stand, beiseite scheuchte.
    Für eine gewisse Zeit herrschte Stille, doch dann siegte die Neugier der anderen, und sie begannen, Bahadur Fragen zu stellen. Da sie auch von sich erzählten, erfuhr Schirin, dass nicht alle in diesem Raum Geiseln waren. Die drei Jüngsten in der Gruppe wurden von Stammesfreunden begleitet, die sich um sie kümmern sollten, und Ilgur hatte einen stummen, flachgesichtigen Kalmücken namens Bödr als Sklave bei sich.
    Fürs Erste vertrieb die Unterhaltung Schirins Heimweh und ein wenig auch ihre Angst und half ihr überdies, den Forderungen ihres Körpers zu widerstehen. Von den Männern, die schon länger hier weilten, erfuhr sie, dass man die gesamte Gruppe so weit nach Westen bringen wollte, dass eine Flucht aussichtslos war, vermutlich sogar bis in das ferne Moskau, wo der Großkhan der Russen regierte, den man Zar nannte und der sich Menschenköpfe servieren ließ. Schirin hoffte, dass man sie zu mager finden würde, um sie zu schlachten, und sie nahm sich fest vor, in Zukunft weniger zu essen.
    Als wäre ihr Gedanke ein Stichwort gewesen, wurde die Tür geöffnet, und mehrere russische Soldaten trugen ein großes Tablett herein, auf dem Dutzende von Kebabspießen und ein hoher Stapel Fladenbrot lag. Es war so viel, dass Schirins Angst wuchs, man wolle die Geiseln für den Zaren mästen. Sie aß daher auch nur ein einziges Spießchen und ein Fladenbrot. Die anderen legten sich weniger Hemmungen an und griffen beherzt zu. Zu trinken gab es Wasser und Buttermilch, doch zuletzt holte ein grinsender Kosak ungesehen von den anderen Soldaten eine Flasche unter seinem Waffenrock hervor und bot sie den Geiseln an.
    »Na, wie wäre es mit einem kleinen Wässerchen?«, fragte er lauernd. Ilgur nahm die Flasche, entkorkte sie und roch daran. Schirin beobachtete, wie sich der Kampf, den er mit sich selbst austrug, auf seinem Gesicht widerspiegelte. Schließlich setzte er die Flasche an, trank einen gehörigen Schluck und bot sie dann dem Nächsten an,der ebenfalls davon kostete und sie weiterreichte. Auch sie bekam die Flasche in die Hand gedrückt und musste nur einmal daran schnuppern, um zu wissen, dass es sich um die gleiche Flüssigkeit handelte, die ihr einer der russischen Offiziere hatte aufzwingen wollen. Da der Anführer des Mannes gesagt hatte, die Gesetze des Propheten Mohammed würden dieses Getränk verbieten, stellte sie die Flasche angeekelt auf den Boden. Ostap, der Jüngste der Geiseln, hob sie unter dem Gejohle der Übrigen auf und trank sie leer.
    »Na, hat es geschmeckt?«, fragte der Kosak lachend und rieb dann Daumen und Zeigefinger aneinander. »Wenn ihr Geld habt, Brüderchen, könnt ihr auch morgen wieder Wodka haben.«
    Schirin besaß eine gut gefüllte Börse, hatte jedoch kein Interesse, Geld für ein von Allah verfluchtes Getränk auszugeben; die anderen aber suchten eifrig in ihren Taschen nach Münzen. Dabei lachten und kicherten sie beinahe wie kleine Mädchen, und wenn sie etwas sagten, klangen ihre Stimmen undeutlich und viel zu laut.
    »Wie könnt ihr dieses Zeug nur trinken? Seht ihr denn nicht, dass es Narren aus euch macht?«, schalt Schirin sie zornig.
    Ilgur fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. »Halt dein Maul, du Hübschling, sonst stopfe ich es dir!« Er machte Anstalten, auf sie loszugehen, doch der Kosak legte ihm den Arm auf die Schulter.
    »Aber Brüderchen, das würde dem Väterchen Kommandanten gewiss nicht gefallen.«
    Zu Schirins Erleichterung beruhigte Ilgur sich sofort wieder und setzte sich auf sein Bett. Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, verhieß jedoch nichts Gutes. Vor ihm würde sie nicht weniger auf der Hut sein müssen als vor den Russen. Jetzt aber wandte Ilgur seine Aufmerksamkeit den anderen zu, und schon bald flammte eine hitzige Diskussion darüber auf, ob man den Russen trauen dürfe oder nicht. Schirin beteiligte sich nicht daran, sondern nutzte die Gelegenheit, sich unauffällig auf dem Kübel in der Ecke zu erleichtern, und zog sich anschließend

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