Die Tatarin
schloss die Tür auf und drehte sich zu Bahadur herum. »Das wird für die nächste Zeit dein Quartier sein, Tatar.«
Die Soldaten richteten die Läufe ihrer Gewehre auf die Tür, um gegen eventuelle Verzweiflungstaten der eingeschlossenen Geiseln gewappnet zu sein, und Wanja winkte seinem Gefangenen, die Hütte zu betreten.
Schirin straffte ihren Rücken, schritt in das Halbdunkel und fand sich in einer primitiv eingerichteten Kammer wieder, deren Wände aus grob behauenen Baumstämmen bestanden, die ebenso fest und widerstandsfähig aussahen wie die eisernen Gitterstäbe vor den Fenstern. An allen vier Seiten des Raumes standen einfache, dreistöckige Betten, und im hintersten Eck befand sich ein großer Kübel aus Holz, der seinem Geruch nach als Abtritt diente.
Etwa zwanzig Gefangene hockten mangels anderer Sitzgelegenheiten auf den Betten oder dem Boden und blickten dem Neuankömmling neugierig entgegen. Die meisten waren erwachsene Männer, aber es befanden sich auch einige Halbwüchsige darunter, und sie gehörten mehr als einem halben Dutzend Völkerschaften an. Schirin sah in teils trotzige, teils ängstliche Gesichter und wunderte sich über die abgetragenen, ärmlichen Gewänder der Gefangenen. Unter diesen Leuten musste sie wie ein Fasan in einer Schar sich mausernder Rebhühner wirken. Die Gefangenen reagierten weniger mit Staunen auf ihre prachtvolle Kleidung als mit Kopfschütteln, als hielten sie ihren Träger für verrückt.
Ein hoch gewachsener junger Mann, der mit seinem schmalen Gesicht, der kühnen Adlernase und den tief liegenden schwarzen Augen ebenso wenig einem Asiaten glich wie sie selbst, stand auf und trat auf sie zu. Ihm war anzusehen, dass er sonst andere Kleidung trug als schmierige Hosen und einen um die Schultern geschlungenen Schaffellkaftan.
Er durchbohrte den Neuankömmling mit seinen Blicken und deutete dann mit der Rechten auf sich selbst. »Ich bin Ilgur, der Sohn des Emirs von Ajsary.«
Er sagte es in einem Ton, als wäre seine Heimatstadt der Nabel der Welt. Schirin war weit davon entfernt, beeindruckt zu sein. Sie erwiderte seinen Blick so hochmütig, wie sie es vermochte, und stellte sich vor: »Ich bin Bahadur, der Sohn des Möngür Khan.«
Ilgur tippte mit seinen Fingerspitzen verächtlich gegen ihren prachtvollen Kaftan. »Wohl sein Lieblingssohn, so wie er dich ausstaffiert hat.«
»Das war die Khanum, meine Mutter.« Es missfiel Schirin, sich als Zeynas Kind ausgeben zu müssen, doch anders hätte sie ihre auffällige Gewandung nicht erklären können.
»Deine Mutter? Wenn die Steuereinnehmer des Zaren den Jassak, den sie von eurem Stamm fordern, an deinem Aussehen messen, wird sie erkennen, wie dumm sie gewesen ist.« Ilgur verzog angewidertdas Gesicht, aber es war nicht zu erkennen, ob seine Verachtung der Mutter des Neuankömmlings galt oder den Russen. Dann entdeckte er den Säbel an ihrer Seite und krauste die Stirn. »Weshalb hat man dir die Waffen gelassen und uns nicht?«
»Man wird schon gewusst haben, warum«, antwortete Schirin mutiger, als sie sich fühlte.
Sie begriff nun, dass noch ganz andere Schwierigkeiten auf sie zukamen, als die, die sie sich bereits ausgemalt hatte, denn sie würde ihr Geschlecht nicht nur vor den Russen, sondern auch vor den anderen Geiseln verbergen und sich unter deren scharfen Augen wie ein Mann aufführen müssen. Ihr Blick wanderte verstohlen zu dem Kübel in der Ecke. Wenn sie sich nicht durch ihre körperlichen Bedürfnisse verraten wollte, durfte sie ihrem Drang nicht vor Einbruch der Nacht nachgeben. Zudem stellte dieser Ilgur ein Problem für sie dar, denn er hatte sich ganz offensichtlich zum Anführer der Geiseln aufgeschwungen und wollte auch sie seiner Herrschaft unterwerfen. Sie fragte sich, wie ihr gefallener Halbbruder, dessen Namen sie nun trug, auf diese Herausforderung reagiert hätte. Zu schnell durfte sie nicht nachgeben, sonst würden auch die anderen Geiseln sie herumstoßen. Wie aber sollte sie sich gegen einen Mann zur Wehr setzen, der größer, schwerer und gewiss um etliches stärker war als sie?
Ilgur setzte zu einer neuen Stichelei an. »Du wirst das oberste Bett dort nehmen!« Die oberen Schlafstätten waren wohl nicht beliebt, aber Schirin hatte nicht vor, ihm zu widersprechen, denn dort würde sie ihre Ruhe haben und man konnte sie nicht so leicht entwaffnen. Sie dachte schaudernd daran, was die Männer mit ihr anfangen würden, wenn sie ihr wahres Geschlecht entdeckten, und nahm sich
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