Die Tatarin
ihm auf, das seine innerlich geweinten Tränen verriet. »Brauchst du jemanden, der dein Packpferd führt?«
Schirin begriff, dass der Junge eine Aufgabe suchte, an der er sich festhalten konnte, und wenn es nur der Zügel ihres zweiten Pferdes war. Sie reichte ihm den geflochtenen Lederriemen und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. »Danke! Auf die Dauer wird es mir doch etwas lästig, auf zwei Gäule Acht geben zu müssen. Aber gib mir den Zügel zurück, wenn es dir zu viel wird.«
»Mach ich!«, versprach Ostap und ritt eine Weile stumm neben seinem Freund her. Dann hob er erneut den Kopf und blickte ihn fragend an. »Was glaubst du, werden die Russen mit uns machen, Bahadur?«
»Sie werden uns gewiss nicht umbringen, denn wir sollen ja für das Wohlverhalten unserer Leute garantieren!« Schirin war sich in diesem Punkt alles andere als sicher, aber sie wollte dem Jungen das Herz nicht noch schwerer machen. Ostap schien noch schlimmere Geschichten über die Russen zu kennen als sie und begann, sich seine Angst von der Seele zu reden. Schirin hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ihre Gedanken beschäftigten sich mit Sergej Tarlow, dervor ihr ritt und sich von Zeit zu Zeit umdrehte, um seine Leute und die Geiseln zu kontrollieren. Er glich niemandem, den sie kannte, weder den Leuten ihres Stammes noch den russischen Händlern oder anderen Reisenden, die im Ordu Gastfreundschaft gefunden hatten. Sie hatte inzwischen erfahren, dass es sich bei diesem Russen um den Offizier handelte, der ihren Vater besiegt und gefangen genommen hatte, aber sie empfand keinen Hass, sondern nur Verwunderung.
Der Mann wirkte alles andere als verschlagen oder auch nur entschlusskräftig genug, um es mit einem listenreichen und kampferprobten Tataren aufnehmen zu können, und wenn er lächelte, glich er eher einem kleinen Kind als einem Krieger. Seine Nase war weder kühn gebogen noch kurz und breit wie die ihrer Stammesleute, sondern schmal und gerade, die Lippen sanft geschwungen, beinahe wie die einer Frau, und seine hellblauen Augen blickten mit einem seltsamen Ausdruck der Unschuld in die Welt.
Angesichts dessen, was er ihr und ihrem Stamm angetan hatte, ärgerte sich Schirin über sich selbst, als ihr klar wurde, dass dieser Russe ihr gefallen hätte, wäre er ihr als Gastfreund ihres Vaters begegnet. Mit einem Mal zogen sich ihre Rückenmuskeln zusammen, denn sie erinnerte sich an das, was die Mullahs zu sagen pflegten: Der Schejtan bedient sich gerne einer angenehmen Hülle, um die Menschen zu täuschen.
Unwillkürlich tastete sie nach dem Griff ihres Säbels. Die Russen hielten sie offensichtlich für ein harmloses Kind, denn sie hatten sie bisher nicht entwaffnet, und sie überlegte, ob sie nicht ein von Allah gesegnetes Werk vollbringen würde, wenn sie diesem Tarlow die Klinge zwischen die Rippen stieß. Der Mann hatte ihren Vater gedemütigt, ihren Stamm der russischen Herrschaft unterworfen und sie ihrem bisherigen Leben entrissen, also war er ein Dschinn und verdiente den Tod.
Unwillkürlich fragte sie sich, ob man sie, wenn sie diesen Mann umgebracht hatte, zum nächsten Schlachtopfer für den Zaren bestimmenwürde. Bei dieser Vorstellung ließ sie den Säbelgriff fahren, als wäre er glühend heiß geworden, umklammerte die Zügel und fragte sich, ob es nicht besser wäre, einen harmlosen Jüngling zu spielen und einfach abzuwarten, was das Kismet ihr bescherte.
Während Ostap, dem ihre geistesabwesende Miene nicht auffiel, weiter von tatsächlichen oder gut erfundenen Schreckenstaten der russischen Besatzer erzählte, wurde ihr langsam klar, dass sie ihr Geschlecht auf Dauer nicht würde verbergen können. Dieser Sergej und seine Männer ließen sie und die übrigen Geiseln bereits jetzt kaum aus den Augen. Irgendwann würde einer der Russen sie in einer verfänglichen Situation überraschen, und dann würde sie all jene Grausamkeiten, die der Junge gerade beschrieb, am eigenen Leib erfahren. Es schüttelte sie bei dem Gedanken, und sie sagte sich, dass der Tod durch eigene Hand diesem Schicksal vorzuziehen war. Ihre Hand suchte den Griff des Dolches, ließ ihn aber sofort wieder los, und sie beschloss abzuwarten, bis das Unausweichliche direkt bevorstand. Möglicherweise würde sie ja zumindest noch die Chance bekommen, einen ihrer Peiniger mit sich zu nehmen.
Sie blickte zu Sergej hinüber und kniff die Lippen zusammen, bis sie schmalen, weißen Strichen glichen. Er war der Feind ihres Stammes, und sein Tod
Weitere Kostenlose Bücher