Die Tatarin
so blieb Schirin, die unter dem Schweden begraben war, unentdeckt. Sie wollte schon ihren Arm befreien und sich den Kosaken bemerkbar machen, als ihr im letzten Augenblick einfiel, dass ihr Unterleib noch immer entblößt war und man sie sofort als Frau erkennen würde. So beschloss sie, sich tot zu stellen, und blieb regungslos liegen, als die Schweden zum Gegenangriff antraten und die Russen sich hastig zurückzogen. Einer der Schweden warf einen kurzen Blick auf den Toten und verzog angewidert das Gesicht. »Den guten Tore haben sie beim Pissen erwischt. Das ist wirklich kein schöner Tod für einen tapferen Kerl.«
Zu Schirins Glück lief er sofort weiter, und sie blieb mit dem Toten allein. Sie wuchtete den schweren Leib von sich herunter, zog hastig die Hose hoch und band die Schnur fest. Als sie ihre Kleidung ordnen wollte, spürte sie plötzlich Schmerzen im linken Oberarm. Sie sah hin und entdeckte Blut, begriff aber erst auf den zweiten Blick, dass es nicht von dem toten Schweden stammte, sondern von ihr selbst. Gleichzeitig fühlte sie sich schwindlig und so schwach wie ein neugeborenes Kind. Beinahe widerwillig rollte sie den Ärmel hoch und entdeckte die Furche, die ein abgepralltes Geschoss in ihr Fleisch geschlagen hatte.
Die Schmerzen wurden stärker, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzuschreien. Sie dachte an die schwedischenFeldscher, die sie in den letzten Wochen tagtäglich bei der Arbeit hatte beobachten können. Bei solchen Wunden wie der ihren hatten die Verletzten mit bloßem Oberkörper vor den Verbandszelten gesessen und sich verarzten lassen. Doch genau das durfte sie nicht zulassen. Sie bedachte den Toten, der sie in diese missliche Lage gebracht hatte, mit bitterbösem Blick und zog mit gequältem Stöhnen ihren Kaftan aus, um die Wunde freizulegen. Die Verletzung war nicht besonders tief, blutete aber stark und musste dringend versorgt werden. Da sie nichts anderes bei sich hatte, riss Schirin einen Streifen Stoff von ihrem Hemd ab, sah dann das Moos, das aus ihrem Kaftan gefallen war und änderte ihre Pläne. Wenn es das Blut auffangen konnte, das natürlicherweise aus ihrem Körper trat, würde es auch diese Blutung stillen können. Sie presste das dickste Moospolster gegen die Wunde, wickelte mit der Rechten den Stoffstreifen herum und knüpfte den Knoten mit Hilfe ihrer Zähne. Als sie den Verband prüfte, saß er fest und trocken an ihrem Arm. Zufrieden streifte sie den Kaftan wieder über, der nur zwei kleine Löcher aufwies, steckte ihren Säbel in die Scheide und kehrte zum Heer zurück.
Der Erste, auf den sie traf, war Ilgur, der kriegerisch mit seiner Waffe herumfuchtelte, aber nicht so aussah, als hätte er sich an diesem Scharmützel beteiligt. Bei Schirins Anblick riss er die Augen auf und zeigte auf die Blutflecken, die sich auf ihrem Ärmel ausgebreitet hatten. »Wie ist das geschehen?«
»Ein Kosak!«, antwortete Schirin mit einer wegwerfenden Geste der rechten Hand. »Er war mir gegenüber im Vorteil, denn er besaß eine Flinte. Ich hingegen musste mich mit meinem Säbel zufrieden geben.« Sie klopfte dabei trotz der Schmerzen im Arm mit der Linken auf die Scheide und machte ein Gesicht, als würde im Wald ein Kosak liegen, der es nicht mehr bedauern konnte, ihr begegnet zu sein.
Ilgur musterte sie mit einer Mischung aus Anerkennung und Neid. »Du scheinst verletzt zu sein und solltest dich verarzten lassen.«
Schirin murmelte etwas auf Tatarisch, das er als »ungläubige Hunde,von denen ich mich nicht berühren lasse« interpretieren konnte, und wollte weitergehen. Ilgurs Stimme hielt sie jedoch zurück.
»Ich werde Bödr befehlen, sich um dich zu kümmern. Er ist in der Wundbehandlung erfahren.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, drehte er sich um und rief nach seinem Sklaven.
Schirin hatte Bödr bislang kaum Beachtung geschenkt, sondern ihn immer nur als Anhängsel seines Herrn betrachtet. Sie empfand wenig Lust, sich in die Hände des Mannes zu begeben. Als der Kalmücke auf sie zukam, fing sie jedoch einen seltsam anbetenden Blick auf. Der Stumme machte ihr mit Gesten klar, dass sie sich auf die Nabe eines Bagagewagens setzen und ihren Kaftan ausziehen solle. Da jede Weigerung Misstrauen hervorgerufen hätte, folgte Schirin seiner Bitte mit innerlichem Zähneknirschen. Bödr rollte den linken Ärmel ihres Hemdes auf, bis der Verband vor ihm lag, öffnete diesen kurz und nickte, als er das trockene Moos entdeckte. »Das hast du gut
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