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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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begleitete den Heereszug in einer Entfernung, die es ihm erlaubte, rasch genug den Rückzug anzutreten. Von dem Heereszug aus gesehen wirkten die feindlichen Reiter kaum größer als Katzen, und doch schlug Schirins Herz bei ihrem Anblick schneller. Die Farbe der Pferde und dieHaltung der Reiter verrieten ihr, dass es sich um Sergej und seine Steppenkrieger handeln musste. Liebend gern wäre sie davongeritten und hätte sich ihnen wieder angeschlossen, doch die Kugeln der Schweden würden sie aus dem Sattel holen, ehe sie die halbe Strecke zurückgelegt hatte. Also konnte sie nichts anderes tun als Allah danken, dass er ihre Freunde bis jetzt beschützt hatte, und die Heilige Jungfrau von Kasan, zu der Sergej immer gebetet hatte, anflehen, weiter auf ihn Acht zu geben. Der Mullah ihres Stammes hätte ein Gebet an einen Götzen der Ungläubigen gewiss nicht gutgeheißen, aber da Sergej ein Christ war, mochten Bitten an seine Heiligen ein größeres Gewicht besitzen als ein Gebet zu ihrem Gott.
    Schischkin, der in ihrer Nähe ritt, verzog beim Anblick der Reiter das Gesicht. »So eine Unverschämtheit, uns so nahe auf den Pelz zu rücken! Zu was sind denn Masepas Kosaken zu uns gestoßen? Sie hätten längst losreiten und dieses Gesindel verjagen sollen.«
    König Carl schien der gleichen Meinung zu sein, denn er gab dem Hetman einen Wink, sich mit seinen Reitern in Bewegung zu setzen. Die Kosaken schwärmten aus, doch ehe sie den feindlichen Trupp erreichten, war dieser im Halbdunkel des von kleinen Wäldern durchzogenen Landes untergetaucht. Das Wetter machte eine Verfolgung unmöglich, denn der tief hängende Himmel öffnete seine Schleusen, und es begann heftig zu schneien.
    Carl XII. lachte, als die dicken Flocken auf seinem bloßen Schopf haften blieben, und hob die Hand, um die Soldaten auf sich aufmerksam zu machen. »Als wir die Russen an der Narwa geschlagen haben, war das Wetter noch viel schlechter, und wir waren vorher drei Tage lang stramm marschiert, ohne mehr als ein Stück Brot in den Magen zu bekommen. Wir werden sie auch diesmal schlagen, das schwöre ich euch!«
    »Freilich, Euer Majestät, wir werden den Russen schon Beine machen!«, rief ein hünenhafter Grenadier und schwang dabei seine Muskete so heftig, dass die neben ihm marschierenden Soldaten beiseite springen mussten, um keine derben Stöße abzubekommen.
    »So ist es richtig, Männer!« Carl XII. winkte dem Musketier leutselig zu und setzte sich dann wieder an die Spitze des Hauptheers, das Roos’ Vorhut im Abstand von einer halben Meile folgte. Die Schweden, die an ein raues Klima gewöhnt waren, freuten sich über den Schnee, und einige tollten wie kleine Jungen neben der Straße, bewarfen einander mit Schneebällen und boten den immer dichter fallenden Flocken die nackte Brust.
    Als Tochter der sibirischen Steppe spürte Schirin die Vorboten eines langen, harten Winters mit eisigen Winden, die jedes nicht auf die Kälte vorbereitete Lebewesen töten würden.

XIV.
    Mit ihrem plötzlichen Schwenk nach Süden verwirrten die Schweden ihre Gegner, und so kam es, dass die Russen die Spur ihrer Feinde zunächst einmal in der Weite des Landes verloren. Nach einigen bangen Tagen gelang es Sergejs Steppenreitern, den feindlichen Heereszug aufzuspüren, und da Sergej den Auftrag hatte, den Grund für das überraschende Manöver Carls XII. herauszufinden, näherten er und seine Männer sich den Schweden auf weniger als einen Werst, stets bereit, sich in die Büsche zu schlagen, sowie der Feind auszuschwärmen begann. Mit einem Fernrohr, das er von Menschikow erhalten hatte, beobachtete Sergej die marschierenden Kolonnen, die so zügig vorwärts strebten, als läge ihr Ziel nur noch wenige Tagesreisen vor ihnen.
    Die Zahl der Schweden war trotz der Verluste des Hauptheers bei der Schlacht von Holovczyn und einigen kleineren Geplänkeln noch immer beängstigend groß. Auch wenn Lewenhaupts Truppen niedergeschlagen worden waren, hatten die Überlebenden die Reihen des Hauptheers wieder aufgefüllt. Die Soldaten, die zumeist schon seit acht Jahren und länger im Feld standen, wirkten nicht im Geringsten kampfesmüde, obwohl die Veteranen unter ihnen bereits an dem Feldzug gegen Dänemark und später an der Schlacht bei Narwa teilgenommen hatten.
    »Ein beängstigender Anblick, findest du nicht auch, Sergej Wassiljewitsch?« Stepan Raskin, der vor kurzem mit einem Beritt Dragoner zu Sergejs Truppe gestoßen war, stand das Grauen vor dem schier

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