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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Dienste der Großfürsten und Zaren getreten waren, und überlegte, ob er es nicht jenen gleichtun sollte. In seinen Augen hatte sein Vater das Band zu ihm durchtrennt, als er ihn anstelle seines ältesten Sohnes und Thronerben den Russen als Geisel übergeben hatte. In seinen Träumen hatte Ilgur sich bereits an der Spitze einer Schar Kosaken in seine Heimatstadt einreiten und seinen Vater und seine Brüder vor sich niederknien sehen. Aber die schlimmen Nachrichten, die er hier vernahm, ließen ihn von dem Gedanken an eine Karriere im Dienst des Zaren Abstand nehmen.
    Schirin entnahm den Gesprächen nur, dass der Zar von Russland sich in großer Not befand, und musste an sich halten, um nicht aufzujubeln. Wenn die Männer um sie herum auch nur halbwegs die Wahrheit sprachen, sahen die Russen bereits ihrem Untergang entgegen. Sie wusste nicht, wer diese Schweden waren, hieß sie im Geist jedoch willkommen. Der Feind ihres Feindes war vielleicht nicht ihr Freund, aber zumindest ihr Verbündeter. Zufrieden mit dieser Entwicklung wandte sie sich an Sergej. »Wie es aussieht, habt Ihr uns umsonst so weit nach Westen geschleppt, Väterchen Offizier. Sobald die Schweden euch Russen geschlagen haben, werden wir gewiss wieder in unsere Heimat zurückkehren dürfen.«
    »Eher schneide ich dir die Kehle durch!« Sergej fuhr wütend auf, packte Bahadur bei den Schultern und schüttelte den Jungen, dass dessen Kopf hin- und herflog. »Höre mir gut zu, du kleiner tatarischer Wicht! Mütterchen Russland hat die Polowzer überstanden, die Wolgabulgaren, die Mongolen, die Polen und euch Tataren. Es wird auch die Schweden überstehen und sich nach diesem Krieg in neuem Glanz erheben!«
    Zum ersten Mal flößte er Schirin Angst ein. Seine sonst eher sanfte Miene war einem harten und entschlossenen Ausdruck gewichen, und in seinen hellblauen Augen glühte ein Feuer, das sie zu versengen drohte. Sie war so erschrocken, dass sie weder an ihren Dolch noch an ihren Säbel dachte, mit denen sie sich hätte wehren können, und blieb wie ein Bündel Lumpen zwischen seinen Fäusten hängen.
    Sergej lächelte zufrieden, als er sah, dass er dem Tatarenbengel Furcht eingejagt hatte, doch schon einen Herzschlag später verachtete er sich wegen seiner Unbeherrschtheit. Noch war dieser Bahadur ein leicht zu erschreckendes Kind, doch in ein paar Jahren würde der Junge ihm eher den Dolch in den Leib rennen, als sich noch einmal so behandeln zu lassen. Seine Schultern sanken nieder, und er gab Bahadur mit einem leichten Stoß frei.
    »Reize mich nicht noch einmal, Tatar, sonst wird es dir schlecht ergehen!«,warnte er ihn, drehte ihm brüsk den Rücken zu und rief mit lauter Stimme nach Wodka.
    Auch das scharfe Gebräu konnte die Spannung nicht lindern, die Sergej in ihren Klauen hielt, und in der Nacht träumte er von schwedischen Soldaten in ihren graublauen Uniformröcken, die einer lebenden Mauer gleich auf ihn zurückten. Er wollte kämpfen, doch die Glieder erstarrten ihm vor Angst, als die vorderste Linie der Feinde ihre Musketen senkte und feuerte. Plötzlich sah er sich rennen wie damals an der Narwa, doch diesmal war das Glück ihm nicht hold. Als er das Ufer erreichte, war die Brücke zusammengebrochen, und der Kahn, mit dem er und einige Kameraden damals hatten übersetzen können, wurde bereits von den Wassern des Flusses davongetragen. In dem Augenblick, in dem ein schwedischer Trabant, der das hasserfüllte Gesicht des jungen Bahadur trug, ihm die Pike durch den Leib rammte, wachte er auf.
    Sergej spürte eine Hand auf seiner Schulter und wollte in Panik hochspringen, doch dann vernahm er Wanja Dobrowitschs Stimme, und ihm wurde bewusst, dass er nur geträumt hatte.
    »Beruhigt Euch, Sergej Wassiljewitsch. Das war wahrscheinlich nur der Fluch eines dieser Steppenteufel, der sich an Euch geheftet hatte. Doch nun ist er gewichen.«
    »Ist etwas passiert?«, fragte Sergej verständnislos.
    Wanja schlug einen Funken und entzündete die Öllampe, die an einer Kette von der Decke hing. »Heute Abend habt Ihr arg viel Wodka getrunken, Väterchen Hauptmann, so viel, dass ich Euch die Treppe hochtragen und zu Bett bringen musste. Eine Weile habt Ihr so süß und selig geschlafen wie ein Kindlein, aber mit einem Mal habt Ihr zu stöhnen und zu schreien begonnen, als würde die Baba Jaga Euch quälen. Da ich nicht zulassen wollte, dass die Hexe Euch Euren Verstand raubt, habe ich Euch so lange gerüttelt, bis Ihr aufgewacht seid. Geht es Euch

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