Die Tatarin
hingestellt hatte, zu waschen und die Haare neu zu richten. Zu Hause hatte sie oft über die Mühe geklagt, ihre langen Zöpfe zu flechten, doch mit dem kurzen, widerborstigen Schopf, den sie mühsam mit dem Kamm bändigen musste, kam sie sich selbst fremd vor.
Als sie in die Wirtsstube trat, kauten die anderen schon mit vollen Backen. Der Tisch bog sich unter Massen an Schweinefleisch, die auf hölzernen Tellern aufgetragen worden waren, und Wodkaflaschen machten die Runde. Schirin wandte dem Geschehen angewidert den Rücken zu und suchte nach einem Platz für sich allein. Da aber alle Tische im Raum besetzt waren, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu ihrer Gruppe zu setzen, und zu ihrem Missvergnügen war nur noch ein Stuhl neben Sergej frei.
»Na, magst du nicht mal ein Rippchen probieren?« Sergej wusste selbst nicht, was ihn dazu trieb, Bahadur auf diese Weise herauszufordern. Er fuchtelte Schirin mit dem angebissenen Rippenstück vor der Nase herum und fiel in das schallende Gelächter der Dragoner ein, die sich über das missmutige Gesicht der Geisel amüsierten.
Es juckte Schirin in den Fingern, dem Offizier das Fleischstück aus der Hand zu reißen und es ihm in den Schlund zu stopfen. Bei einer körperlichen Auseinandersetzung mit ihm würde sie jedoch den Kürzeren ziehen und gleichzeitig riskieren, dass man sie als Mädchen entlarvte. Daher schob sie seinen Arm beiseite und verzichtete darauf, auf das Stück Schweinefleisch zu spucken.
Hochmütig winkte sie den Besitzer der Herberge zu sich. »He, Wirt, hast du Fisch?«
Der Mann wieselte geschäftig herbei und nickte. »Sehr wohl, Euer Gnaden! Die Bjelaja, an der, wie Ihr sicher wisst, unser Städtchen liegt, ist reich an Fisch. Wünscht Ihr ihn gebraten, gekocht oder geräuchert?«
»Gebraten«, entschied Schirin sich und bereute es nicht. Der Fisch, den man ihr vorsetzte, war so lang wie ihr Unterarm und sein Fleisch so zart und wohlschmeckend, dass es ihr auf der Zunge zerging.
»Ich möchte auch Fisch«, meldete sich Ostap, dem bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammenlief.
»Er ist nicht billig«, warnte der Wirt ihn, da der Junge im Gegensatz zu Schirin doch arg schäbig gekleidet war.
Schirin machte eine wegwerfende Geste. »Bring ihm einen auf Kosten des Zaren. Der wird gewiss nicht wollen, dass seine wertvollen Geiseln verhungern!«
Ihre höhnischen Worte kratzten an Sergejs Nerven, und er hätte diesem eingebildeten Burschen am liebsten ein paar derbe Ohrfeigen verpasst. Noch während er überlegte, auf welche Weise er diesem Tatarenprinzlein seine Frechheiten eintränken konnte, ohne ihm die Knochen zu brechen, drangen Gesprächsfetzen an sein Ohr, die ihn aufhorchen ließen.
Der Krieg mit den Schweden, der für Sergej in den letzten Monaten so fern gewesen war, als würde er sich am anderen Ende der Welt abspielen, beherrschte hier die Gemüter. Die meisten Gäste in der Herberge waren Kaufleute, die gleich Jurij Gawrilitsch nach NischniNowgorod unterwegs waren, um dort einzukaufen. Einige hatten eigene Waren dabei, doch die meisten führten Bargeld mit oder zählten darauf, dass ihre Geschäftsfreunde ihnen Kredit bis zu jenem Tag einräumen würden, an dem der Krieg zu Ende war und die nächste Messe in Nischni Nowgorod abgehalten werden konnte.
Was Sergej jetzt erfuhr, ließ ihn das Schlimmste befürchten. Einigen Kaufleuten zufolge hatten die Schweden schon vor Monaten die Grenzen Russlands überschritten, und ein Mann schwor Stein und Bein, dass sie bereits bis Smolensk vorgedrungen waren, und wenn nicht bis dorthin, dann wenigstens bis Minsk oder Mogilew.
»Ich sage euch, mit dem Zaren geht es zu Ende!«, rief ein älterer Mann, dessen Gesicht und Brust von einem langen, grauen Bart bedeckt wurden. Es klang so beschwörend, als sehne er Pjotr Alexejewitsch Romanows Tod geradezu herbei.
»Sei doch still! Da drüben sitzt ein Offizier des Zaren. Willst du, dass er dich verhaften lässt?«, wies ihn einer seiner Gefährten zurecht. Abschätzige Blicke streiften Sergej, und die Gespräche der Händler wurden leiser. Der junge Hauptmann besaß jedoch gute Ohren und bekam noch einiges mit, das ihm nicht gefallen konnte. Schirin lauschte ebenso angespannt wie er den Unterhaltungen, und auch Ilgur konnte man ansehen, dass er sich kein Wort entgehen ließ. Der Sohn des Emirs von Ajsary hatte von den Dragonern erfahren, dass etliche der hohen russischen Geschlechter von tatarischen Vorfahren abstammten, die in die
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