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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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zurückzuspringen. In aller Hast schnitten sie die Enterleinen durch und setzten ihre Segel, um von der Sankt Nikofem freizukommen.
    Pjotr Alexejewitsch stand blutbespritzt auf dem schlüpfrigen Deck und starrte den Feinden nach, die den für sie günstigen Wind ausnützten, um Abstand von den Galeeren zu gewinnen. Deren Ruderer legtensich mit aller Kraft in die Riemen, um die Fliehenden einzufangen oder zu versenken, aber der Zar erkannte die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens und ließ ihnen signalisieren, die Verfolgung einzustellen. Dann riss er einen Stofffetzen aus dem Uniformrock eines schwedischen Soldaten, säuberte seinen Säbel damit und stieß die Klinge in die Scheide.
    »Das war verdammt knapp!«, bekannte er.
    »Das war’s wirklich, Väterchen, aber Gott war auf unserer Seite!«, rief einer der Matrosen erleichtert aus und schlug das Kreuz. Sofort knieten die weniger schwer verletzten Männer nieder und stimmten ein inbrünstiges Dankgebet an. Der Zar hob die Hände und sprach die Worte sichtlich erleichtert mit. Dieser Tag hätte den Krieg mit den Schweden mit einem Schlag beenden können, das war Pjotr Alexejewitsch klar, und ihm wurde ganz kalt, als er sich vorstellte, welcher Jubel in Stockholm geherrscht hätte, wenn er getötet oder gar gefangen genommen worden wäre. Sein Sohn, dachte er zähneknirschend, hätte jedes Friedensdiktat des Schwedenkönigs angenommen, ganz gleich, wie demütigend es ausgefallen wäre.
    Sein Blick glitt zum Himmel, und nun bekreuzigte auch er sich. »Jetzt weiß ich, dass wir diesen Krieg gewinnen werden, denn Gott hat noch Großes mit meinem Russland vor!«
    Er trat zu seinen Männern, klopfte jedem Einzelnen auf die Schultern und beugte sich zu den schwerer Verletzten nieder, um ihnen Mut zuzusprechen. Bei der kurzen Ansprache, in denen er die betrauerte, die an diesem Tag gefallen waren, um ihn und Russland zu verteidigen, traten ihm die Tränen in die Augen. Dann ließ er die toten Schweden und jene, die so schwer verletzt waren, dass sie kaum durchkommen würden, über Bord werfen. Zwei der Angreifer, denen die Flucht nicht mehr gelungen war, wurden auf seinen Befehl hin gefesselt und unter Deck gebracht. Sie würden das namenlose Heer verstärken, das dem Sumpf an der Newa seinen Traum von Sankt Petersburg abrang.
    Wie durch ein Wunder hatte Schirin keine schwereren Verletzungen als ein paar Schrammen davongetragen, aber nach den vielen Püffen,Stößen und Schlägen schmerzte ihr Körper, als hätte man ihr sämtliche Knochen gebrochen. Sie zitterte vor Schwäche, und als sie an sich herabblickte, stellte sie fest, dass ihre Kleidung mit fremdem Blut getränkt war. Sofort stieg ihr Magen, der den Seegang gut überstanden hatte, bis an die Kehle, und sie musste alle Kraft zusammennehmen, um das Bild eines kampfgewohnten Tatarenkriegers aufrechtzuerhalten. Sie sehnte sich danach, irgendwo allein zu sein und sich den Schmutz und den Schrecken abzuwaschen. Weil dies nicht möglich war, wankte sie zur Reling und starrte in die grauen Wellen, die die Toten davontrugen. Bei deren Anblick begannen ihr nun doch die Tränen über die Wangen zu laufen. Da fiel ein Schatten über sie, und sie sah Sergej neben sich stehen. Auch er war voller Blut, und an seinem linken Arm klaffte ein langer Schnitt. »Du solltest dich verbinden lassen, Sergej Wassiljewitsch.« Schirin wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, ihn scheinbar ruhig und gelassen anzusprechen.
    »Gleich werde ich mich in die Schlange der leichter Verletzten einreihen! Vorher wollte ich sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.« Sergej streckte die Hand aus und zupfte an den Schnitten herum, die die feindlichen Klingen in den dicken Lederschichten ihres Mantels hinterlassen hatten. Dabei kam er ihrem Busen gefährlich nahe, so dass sie seinen Arm wegschob. »Mir fehlt nichts!«
    Es klang so böse, dass er zusammenzuckte. Schnell versuchte sie, ihren Worten die Schärfe zu nehmen. »Ich möchte mich bei dir bedanken. Du hast mir das Leben gerettet.«
    »So wie du mir!« Es war die Stimme des Zaren, die dicht hinter ihr aufklang.
    Sie fühlte sich bei den Schultern gepackt, herumgewirbelt und an Pjotr Alexejewitschs Brust gedrückt. Seine Lippen pressten sich auf ihre Wangen und drückten schmatzende Küsse darauf. In diesem Moment wünschte sie sich an das andere Ende der Welt.

IV.
    Der Zar besaß ein gutes Gespür dafür, die Dramatik einer Situation auszunützen, und so gedachte er, die in letzter

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