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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Sechzig Matten erscheint ihm sechshundert Matten breit und sechstausend Matten tief.
    Shiroyama setzt sich seinem Feind gegenüber an den Spieltisch. «Es ist unverzeihlich selbstsüchtig, einen so vielbeschäftigten Mann mit zwei letzten Wünschen zu belästigen.»
    «Es ist mir eine große Ehre, Ihre Bitte zu erfüllen, Statthalter.»
    «Lange vor unserer ersten Begegnung hatte ich die Leute mit Hochachtung raunen hören, dass Enomoto-sama über außergewöhnliche Fertigkeiten im Schwertkampf verfügt.»
    «Die Leute übertreiben gerne, aber es stimmt, dass mich im Lauf der Zeit fünf Männer darum baten, ihnen bei ihrem Tod als Kaishaku zu sekundieren. Ich habe diese Aufgabe stets angemessen ausgeführt.»
    «Ihr Name kam mir sofort in den Sinn, Fürstabt, und ich dachte, Sie und kein anderer.» Shiroyamas Blick richtet sich auf Enomotos Obi. Er vermisst das Schwert.
    «Mein Novize», der Abt nickt dem jungen Mann zu, «hat es mitgebracht.»
    Das schwarz eingeschlagene Schwert liegt auf einem roten Samttuch.
    Auf einem kleinen Tisch stehen ein weißes Tablett mit vier schwarzen Trinkschalen und einer roten Kürbisflasche.
    Etwas abseits liegt ein weißes Leintuch, groß genug, um einen Leichnam darin einzuwickeln.
    «Wünschen Sie weiterhin», Enomoto zeigt auf das Spielbrett, «dass wir beenden, was wir begonnen haben?»
    «Man muss etwas tun, bevor man stirbt.» Der Statthalter drapiert die Haori-Jacke über den Knien und wendet sich dem Spiel zu. «Haben Sie Ihren nächsten Zug entschieden?»
    Enomoto platziert einen weißen Stein, um den schwarzen Vorposten im Osten zu bedrohen.
    Das gedämpfte Geräusch klingt wie das Klappern eines Blindenstocks.
    Shiroyama setzt auf Sicherheit: Sein Stein ist gleichzeitig eine Brücke zu den weißen Gebieten im Norden und ein Brückenkopf gegen sie.
    «Wer gewinnen will», hat sein Vater ihn gelehrt, «muss sich von seinem Siegeswillen reinigen.»
    Enomoto sichert seine nördliche Armee, indem er ein Auge schafft.
    Der Blinde bewegt sich schneller: Tack macht sein Stock, tack wird der nächste Stein gesetzt.
    Ein paar Züge später nimmt Shiroyama eine Gruppe von sechs weißen Steinen gefangen.
    «Ihre Uhr war abgelaufen», bemerkt Enomoto, «und die Zinslast erdrückend.» Er platziert weit hinter Schwarz’ Westgrenze einen Spion.
    Shiroyama schenkt dem Spielzug keine Beachtung und setzt den ersten Stein für eine Straße zwischen seinen Armeen in der Mitte und im Westen.
    Enomoto kontert abermals mit einem ungewöhnlichen Zug: Er setzt im Südwesten einen Stein ins Niemandsland.
    Zwei Züge später fehlen Shiroyamas kühner schwarzer Brücke nur noch drei Steine zu ihrer Fertigstellung. Er wird mich doch nicht tatenlos gewähren lassen?, denkt der Statthalter.
    Enomoto setzt einen Stein in Rufnähe seines Spions im Westen ...
    ... und Shiroyama erkennt die Pfeiler einer weißen Kette, die im Halbkreis von Südwesten nach Nordosten führt. Wenn Weiß die schwarzen Hauptarmeen in dieser späten Spielphase daran hindert, sich zusammenzuschließen ...
    ... wird mein mächtiges Reich , begreift Shiroyama, in drei armselige Lehen zerschlagen.
    Nur noch zwei Kreuzpunkte bis zur Brücke: Shiroyama besetzt den einen ...
    ... und Enomoto setzt einen weißen Stein auf den anderen: Der Kampf wendet sich.
    Gehe ich hierhin, geht er dorthin; gehe ich hierhin, er dorthin; ich hierhin ...
    Aber nach fünf vorausgedachten Zügen und Gegenzügen hat Shiroyama den ersten schon vergessen.
    Go ist das Duell zweier Propheten , denkt er. Wer den besseren Weitblick hat, gewinnt.
    Seine versprengten Armeen können nur noch darauf hoffen, dass Weiß einen Fehler begeht.
    Aber Enomoto , weiß der Statthalter, macht keine Fehler.
    «Denken Sie auch manchmal», fragt er, «dass nicht wir das Spiel spielen, sondern das Spiel uns?»
    «Sie haben einen mönchischen Geist, Statthalter», antwortet Enomoto.
    Es folgen noch weitere Züge, aber das Spiel hat den Höhepunkt der Vollendung überschritten.
    Unauffällig zählt Shiroyama seine schwarzen Gebiete und die gefangenen Steine des Gegners.
    Enomoto bemerkt es, tut dasselbe mit den weißen Steinen und wartet, bis der Statthalter fertig ist.
    Der Abt zählt acht Punkte Vorsprung für Weiß; nach Shiroyamas Rechnung gewinnt Enomoto mit achteinhalb Punkten Vorsprung.
    «Es war ein Zweikampf», bemerkt der Verlierer, «zwischen meinem Mut und Ihrer Finesse.»
    «Meine Finesse hätte mich beinahe vernichtet», räumt Enomoto ein.
    Die Spieler legen die

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