Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Sie den Feind mit Ihrem Mut beschämt.»
Die vier Jahre, die Jacob unter Londonern gelebt hat, lassen ihn an dieser Vermutung zweifeln, aber er verbeugt sich für das Kompliment. «Werden Exzellenz nach Edo reisen und den Bericht persönlich überbringen?»
Zu Jacobs Verwunderung tritt ein schmerzhafter Ausdruck in Shiroyamas Gesicht. Der Statthalter richtet die schwerverständliche Antwort an Goto. «Seine Exzellenz sagt ...», Goto zögert, «dass Edo» - es handelt sich um ein kaufmännisches Wort - «eine ‹Abrechnung› verlangt.»
Der Dolmetscher gibt Jacob zu verstehen, er solle die bewusst vage formulierte Antwort nicht weiter hinterfragen.
Jacob bemerkt das Go-Brett in der Ecke: Es ist noch dieselbe Partie wie bei seinem Besuch vor zwei Tagen, nur ein paar Steine wurden bewegt.
«Mein Gegner und ich», sagt Shiroyama, «kommen nur selten zusammen.»
Es fällt Jacob nicht schwer zu erraten, wer dieser Gegner ist: «Der Fürstabt des Lehens Kyōga?»
Der Statthalter nickt. «Der Fürstabt ist ein meisterhafter Spieler. Er erkennt die Schwächen seines Gegners und setzt sie gegen dessen Stärken ein.» Er betrachtet reumütig das Brett. «Leider ist meine Lage aussichtslos.»
«Als ich auf dem Wachtturm stand», sagt Jacob, «war meine Lage auch aussichtslos.»
Kammerherr Tomine nickt Dolmetscher Goto zu: Es wird Zeit.
«Exzellenz.» Nervös zieht Jacob die Schatulle aus der Innenjacke. «Ich bitte Sie ergebenst, diese Schriftrolle zu lesen, wenn Sie allein sind.»
Shiroyama sieht stirnrunzelnd seinen Kammerherrn an. «Die Tradition sieht vor», erklärt Tomine Jacob, «dass jeder Brief eines Niederländers von zwei Mitgliedern der Dolmetscherzunft auf Dejima übersetzt werden muss, bevor -»
«Ein britisches Kriegsschiff ist nach Nagasaki gekommen und hat das Feuer eröffnet. Was hat Ihre Tradition dagegen unternommen?»
Der Ärger über Jacobs Bemerkung reißt Shiroyama aus seiner Melancholie. «Wenn es sich dabei um einen Antrag für mehr Kupfer oder irgendeine andere Ware handelt, sollte Faktor de Zoet wissen, dass mein Stern in Edo nicht im Aufstieg begriffen ist ...»
«Es ist ein aufrichtiger, persönlicher Brief, Exzellenz. Bitte verzeihen Sie das schlechte Japanisch.»
Jacob merkt, dass seine Lüge Tomines und Gotos Neugier besänftigt.
Die harmlos wirkende Schatulle gelangt in die Hände des Statthalters.
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XXXIX
Auf der Veranda vor dem Raum der Letzten Chrysantheme im Amtssitz des Statthalters
Der neunte Tag des neunten Monats
Möwen gleiten durch Speichen aus Sonnenlicht, über Dächer aus feinen Ziegeln und schäbigem Stroh, schnappen sich auf dem Marktplatz Innereien und fliehen über verborgene Gärten, bewehrte Mauern und dreifach verriegelte Türen. Möwen landen auf hölzernen Toren, knarrenden Pagoden und geweißten Emporen, kreisen über stinkenden Ställen, Türmen, gewaltigen Glocken und Wällen, unter den Blicken von Wanderern, wölfischen Hunden, nicht bemerkt von buckligen Schustern und ihren Kunden, fliegen weiter zum Fluss Nakashima, hindurch unter Brücken, wohl bemerkt von Mauleseln, ihren Treibern und Mädchen beim Blumenpflücken. Möwen fliegen hinweg über Milane, die tote Katzen zerfleischen, Marktschreier, die Gehör erheischen, über Gelehrte, die in fragilen Gedankengebäuden die Wahrheit entdecken, Bettler am Straßenrand, die bittend die Hände ausstrecken, Kräuterheiler, Scherenschleifer, Seiler, über bienenwachsknetende Kerzendreher, windige Wahrsager, selbsternannte Seher, hartherzige Steuereintreiber, Waschweiber an dampfenden Zubern und Schreiber, dahineilende Diener, dreiste Lügner und Schlawiner, ledrige Gerber, axtschwingende Holzfäller, Fallensteller und fleckhäutige Färber, über Kalligraphen, die ihre Pinsel eintauchen, Verliebte, die sich zärtliche Worte zuhauchen, bankrotte Buchhändler mit ihren Ladenhütern, Kaufleute mit heißbegehrten Gütern, über Hofdamen, Vorkoster, Ankleider, Schneider, Ratgeber, stibitzende Pagen und heuchelnde Streber, über dunkle Dachkammern, wo Näherinnen mit zerstochenen Fingern sitzen, Badehäuser, in denen treulose Männer schwitzen, Simulanten, Schweinehirten, Schwindler und Spekulanten, schwadronierende Schuldner, die um Erbarmen flennen, gnadenlose Gläubiger, die jede Ausflucht kennen, Gefangene, die nach Freiheit gieren, alternde Lebemänner, die jungen Dingern nachstieren, über kränkelnde Hauslehrer, schippende Straßenkehrer, Apotheker, die Arzneien bereiten, Hausierer mit
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