Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
des Wahnsinns und -»
«Die Gebote wirken, Sie Ungeziefer! Das Seelenöl wirkt! Wie könnte ein Orden, der auf Wahnsinn gründet, so viele Jahrhunderte überleben? Wie könnte ein Abt durch Scharlatanerie die Gunst der klügsten Männer des Reiches gewinnen?»
Die überzeugtesten Gläubigen , denkt Shiroyama, sind die ruchlosesten Ungeheuer. «Ihr Orden stirbt mit Ihnen, Fürstabt. Jiritsus Zeugnis ist unterwegs nach Edo, und ...», das Gift greift sein Zwerchfell an, sein Atem wird schwächer, «und da Sie den Orden nicht mehr verteidigen können, wird man den Schrein auflösen.»
Die fortgeschleuderte Schale rollt flüsternd in einem weiten Bogen durch den Saal.
Shiroyama sitzt im Schneidersitz und versucht, seine Arme zu bewegen. Sie sind ihm in den Tod vorausgegangen.
«Unser Orden», ächzt Enomoto, «die Göttin, das Ritual der geernteten Seelen ...»
Kammerherr Tomine schnappt nach Luft. Sein Kinn zittert.
Enomotos Augen glühen. «Ich kann nicht sterben.»
Tomine fällt vornüber auf das Go-Brett. Die Schalen mit den Spielsteinen kippen um.
«Alterungsprozess aufgehoben», Enomotos Gesicht erstarrt, «Haut fleckenlos, Kraft unversehrt.»
«Herr, mir ist kalt», die Stimme des Novizen verwischt, «mir ist so kalt, Herr.»
«Am anderen Ufer des Sansho», Shiroyama spricht seine letzten Worte, «warten Ihre Opfer auf Sie.» Seine Zunge und die Lippen arbeiten nicht mehr zusammen. Manche sagen - sein Körper wird zu Stein - es gebe kein Leben nach dem Tod. Manche sagen, die Menschen währten nicht länger als Mäuse oder Eintagsfliegen. Aber Ihre Augen, Enomoto, zeigen, dass die Hölle keine Erfindung ist, denn in ihnen spiegelt sich die Hölle. Der Boden kippt und wird zur Wand.
Über ihm stößt Enomoto einen verstümmelten, erstickten Fluch aus.
Lass ihn zurück , denkt der Statthalter. Lass alles hinter dir ...
Shiroyamas Herz hört auf zu schlagen. Der Puls der Erde schlägt an seinem Ohr.
Neben ihm liegt ein Go-Stein aus Muschelkalk, glatt und vollkommen ...
... ein schwarzer Schmetterling setzt sich auf den weißen Stein und schlägt die Flügel auf.
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TEIL IV
Regenzeit
1811
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XL
Der Tempel auf dem Berg Inasa, oberhalb der Bucht von Nagasaki
Morgens, Freitag 5. Juli 1811
Der Leichenzug bewegt sich über den Friedhof. Zwei buddhistische Priester schreiten voran: Einer schlägt eine Trommel, der andere zwei Stöcke. Ihre schwarz-weiß-nachtblau gefärbten Gewänder erinnern Jacob an Elstern, eine Vogelart, die er seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Hinter ihnen tragen vier Eta Marinus’ Sarg. Neben Jacob geht sein zehnjähriger Sohn Yūan. Die Dolmetscher ersten Ranges Iwase und Goto folgen einige Schritte dahinter, begleitet vom ehrenvoll ergrauten, aber junggebliebenen Dr. Maeno und Ōtsuki Monjurō von der Shirandō-Akademie. Vier Wachleute bilden den Abschluss. Marinus’ Sarg und Grabstein wurden von der Akademie gestiftet, und dafür ist Faktor de Zoet dankbar: Seit drei Handelszeiten schon ist Dejima auf Darlehen aus den Kassen Nagasakis angewiesen.
Feine Nebeltropfen hängen in Jacobs rotem Bart. Einige rinnen seinen Hals hinunter in den letzten, noch nicht vollends abgestoßenen Kragen und mischen sich mit dem warmen Schweiß auf seiner Brust.
Der umzäunte Bereich für die Ausländer liegt ganz hinten am Waldrand. Jacob muss an die Gräber der Selbstmörder neben der Kirche seines Onkels in Domburg denken. Meines verstorbenen Onkels , verbessert er sich. Der letzte Brief von zu Hause erreichte ihn vor drei Jahren, zwei Jahre nachdem Geertje ihn geschrieben hatte. Seine Schwester hat nach dem Tod des Onkels den Schulmeister aus Vrouwpolder, einem kleinen Dorf östlich von Domburg, geheiratet und unterrichtet dort die jüngeren Schüler. Die französische Besetzung mache das Leben auf Walcheren beschwerlich, schrieb sie - die große Kirche in Veere ist jetzt Kaserne und Stallung für Napoleons Armee aber ihr Mann sei gut zu ihr und sie hätten es besser getroffen als die meisten.
Kuckucksrufe schallen durch den nebelverhangenen Morgen.
Auf dem Ausländerfriedhof wartet, halb von Schirmen verdeckt, eine große Trauerschar. Der Leichenzug schreitet nur langsam voran, und Jacob betrachtet einige der etwa hundertfünfzig Grabsteine: Soweit er den Journalen seiner Vorgänger entnehmen konnte, ist er der erste Niederländer, der den Fuß auf den Friedhof setzt. Die Namen der frühesten Toten sind Frost und Unkraut anheimgefallen, aber seit der
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