Die Teeprinzessin
Stunde später begann auch Sikki zu gähnen und vorsichtig durch die Menge der schlafenden Körper hindurchzustapfen. Betty wollte ihr eben unter Deck folgen, als ein Schrei die Stille zerriss.
Es war eine der Tanten aus der Großfamilie, die um ihr Leben zu schreien schien. »Pst!«, machten einige verärgerte Mitreisende und setzten sich auf ihren Decken auf. Der Schiffsmotor verstummte. Dennoch glitt die Cressida noch mit langsamer Fahrt voran. Einige der Passagiere rieben sich verwundert die Augen, andere drehten sich nur im Schlaf herum. Betty spürte die Anwesenheit der Piraten, bevor sie sie sah. Daher also der Alkohol- und Wanzenkrautgestank! Sie enterten das Schiff lautlos und von beiden Seiten gleichzeitig. Betty konnte sie nicht sehen. Sie sah nur dunkle huschende Schatten. Einmal blitzte ein Messer auf.
Der süße Geruch frischen Blutes stieg auf. Eine Frau schrie. Andere Passagiere wimmerten auf ihren Decken. Betty klammerte sich an der Reling fest, unfähig, auch nur einen Schritt zu machen. Einer der Mitreisenden, die sich vor dem Schornstein niedergelassen hatten, sprang auf die Füße und forderte einen der Piraten zum Duell. Er konnte seinen Vorschlag nicht einmal zu Ende sprechen, da sank ihm bereits der Kopf auf die
Brust und er sackte leblos auf die Knie und dann auf die Seite. Bevor sie protestieren konnten, ereilte seine beiden Mitreisenden ein ebenso bitteres Schicksal. Betty wollte schreien und konnte es nicht. Das Metall der Reling war nun eiskalt, fast schienen ihre Finger daran festzufrieren.
Die Fahrt der Cressida war jetzt völlig zum Stillstand gekommen, sie lagen träge wie in Öl. Auf dem Deck wimmerten Frauen und Kinder, die von ihren Müttern verzweifelt beruhigt wurden. Aber offenbar hatten es die Piraten nur auf die europäischen Männer abgesehen und auf die wenigen europäisch gekleideten jüngeren Frauen, die sie lebend mit von Bord zerrten. Kinder, ältere Frauen und alle Einheimischen verschonten sie.
Der Mond schaute besorgt hinter einer der Wolken hervor, und Betty sah, wie zwei der Piraten ein Mädchen in ihrem Alter bei den Haaren packten und mit sich schleiften. Sie musste über die Reling klettern und offenbar eine Enterleiter hinabsteigen, was sie unter lautem Wehklagen tat.
Ein Lichtstrahl des Mondes fiel auf das Deck, und Betty sah, dass Mister Burman reglos auf seinem Überrock lag. Schlief er? Oder war auch er bereits ein Opfer der Piraten geworden? Sah sein Körper nicht eigenartig verkrümmt aus?
Einige der Piraten hatten nun begonnen, das Hab und Gut der Reisenden zu inspizieren. Die Seekisten und Schrankkoffer schleppten sie an Deck und schütteten sie vor den Augen aller aus. Einer der Männer hielt eine Fackel, ein anderer durchstöberte die Kleider mit der Stiefelspitze, bis er gefunden hatte, was er suchte: ein Kästchen mit Schmuck. Wie es schien, gab es fast in jedem Koffer ein paar Wertsachen, Pistolen und Säbel, aber auch Kistchen mit Silber, die denen ähnelten, die Betty auf Lizas Garden zurückgelassen hatte, oder Beutel mit Goldmünzen. Eine ältere Frau hob ein fürchterliches Wehklagen
an, als einer der Piraten eine Art Diadem aus ihrem Koffer hervorbeförderte und es einem seiner Genossen zuwarf. Sie krabbelte sogar auf allen vieren zu ihm hin und klammerte sich an sein Bein, um ihn zur Herausgabe des Schmuckstückes zu bewegen. Die Piraten lachten laut, dann nahm einer von ihnen ein Schwert aus einem der Koffer und hieb der Frau damit den Kopf vom Leib.
Betty stand schreckensstarr. Sie jedoch schien für die Pira ten Luft zu sein. Nach einer Weile brüllten sie einander etwas zu und ein Dutzend von ihnen verschwand gemeinsam unter Deck. Betty wusste, was sie vorhatten, noch bevor der Erste von ihnen mit einer ihrer Teekisten auf den Schultern wieder an Deck gestapft kam.
Nun schienen sie auch das Interesse für das Gepäck der Reisenden verloren zu haben. Sie schleppten Kiste für Kiste zur Reling, vertäuten sie und ließen sie behutsam nach unten. Was war mit Sikki geschehen, die doch in der Kabine mit dem Tee ihr Lager aufgeschlagen hatte? Betty spürte das Verlangen, sich ebenfalls vor einem der Piraten auf die Knie zu werfen und um Sikkis Leben zu flehen. Doch sie war wie versteinert.
Die Piraten hatten jetzt eine Art Kette zur Reling gebildet. Es dauerte nicht lange, da erschien das Gesicht eines der jungen Mädchen wieder über dem Geländer, gleich darauf folgten zwei weitere. Brauchten sie den Platz auf ihren Enterbooten etwa
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