Die Teeprinzessin
kann nichts dafür, wie sie geworden ist. Sie war noch ganz klein, als ihr Vater starb, und ihre Mutter konnte sich all die Jahre nicht um sie kümmern. Vielleicht waren auch böse Mächte im Spiel.«
Betty schluckte. In ihrem Leben schienen ebenfalls böse Mächte im Spiel zu sein, die sie von Francis weggetrieben hatten. Sie wünschte, sie hätte ihn niemals kennengelernt, dann wüsste sie wenigstens nicht, was sie verloren hatte. Der liebevolle Ton, mit dem Sikki über Ava sprach, kränkte sie. »Weißt du, wie lange das schon geht mit Mister Jocelyn und mit Ava?«
Sikki hob verwundert das Gesicht. »Ich verstehe Sie nicht.«
»Wie lange sind die beiden schon so eng zusammen? Das möchte ich gern als Letztes noch wissen.« Betty konnte kaum noch ein Wort herausbringen. Fast wünschte sie, die Piraten hätten auch ihr den Garaus gemacht, dann müsste sie jetzt nicht so leiden.
Sikki seufzte. »Ava ist vor einigen Wochen achtzehn Jahre alt geworden.« Sie überlegte und zählte langsam an ihren Fingern ab. »Genau weiß ich es leider nicht zu sagen. Aber ich denke, dass Mister Jocelyn vielleicht sieben Jahre alt war, als seine kleine Schwester geboren wurde. Seitdem hat er sich fast die ganze Zeit um sie gekümmert. Sie hat ja nur ihn.«
Betty zuckte zusammen. »Ava ist die kleine Schwester von Francis?«
»Natürlich ist sie das. Haben Sie denn nicht gesehen, dass beide fast die gleichen Augen haben? Vielleicht hat er sie nicht sofort erwähnt, weil er sich ihrer Opiumsucht schämte. Die Europäer sind ja immer sehr strikt in diesen Dingen und bestimmt wollte er Sie nicht wieder verlieren. Was dachten Sie denn, wer sie sein mag?«
2
So langsam die Cressida sich bis zur Straße von Malakka bewegt hatte, so stark wurde jetzt die Maschine unter Dampf gesetzt. Der Bug schlug sich durch die immer höher werdende Dünung, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Betty hatte tagelang in ihrer Koje geschlafen. War sie während der vergangenen Wochen vor ihrem Leid an Deck geflüchtet und hatte nächtelang in die Sterne geschaut oder sich zur Ablenkung die langatmigen Schilderungen von Mister Burman angehört, so versuchte sie jetzt, ihrer Scham mithilfe des Schlafs zu entfliehen. Aber leider gelang es nur selten. Wann immer sie wieder aufwachte, stand ihr vor Augen, wie sie Francis und seine Schwester im Garten beobachtet und nicht erkannt hatte, dass sie Bruder und Schwester waren. Warum nur hatte sie die beiden überhaupt belauscht? Warum hatte sie sich ihm nicht anvertraut? Warum war sie einfach ihrem Dickkopf gefolgt und überstürzt abgereist? Sie war sich sicher, dass er ihr das nicht verzeihen würde.
Aber traf nicht auch ihn eine Schuld? Eine kleine zumindest? Immerhin hatte er ihr verschwiegen, dass Ava seine Schwester und dass sie opiumsüchtig war. Hatte er wirklich
befürchtet, dass Betty sich nach so einer Mitteilung von ihm abwenden würde? Hatte er denn gar kein Vertrauen zu ihr?
Betty hatte kaum noch Kraft zum Weinen. Fast ebenso schlimm war, dass sie den Tee verloren hatte. Nun würden die Remburgs ihre Ware nie bekommen, die ihnen ja immerhin zustand. Betty war mit einem Male keine Abenteurerin mehr. Sie war eine Diebin und Betrügerin, die fremde Menschen um ihr Hab und Gut brachte und die zudem ihre Versprechen nicht hielt. Und sie hatte leichtfertig das Geschenk aufs Spiel gesetzt, das Francis ihr aus Liebe gemacht hatte. Der Tee aus dem Garten der schlafenden Prinzessin war weg. Und es gab keine Chance, ihn jemals wiederzubekommen. Betty hatte alles verloren, was sie jemals besessen hatte. Auch ihr Glück. Sie würde Francis niemals wieder unter die Augen treten können.
Sikki schien zu spüren, dass eine große Last auf ihrer Seele lastete, stellte jedoch keine Fragen und gab ihre eigenen Gedanken nicht preis. Manchmal bemerkte Betty, dass auch der Blick von Thomas Burman auf ihr ruhte. Er machte sich aber wohl eher Sorgen, ob Betty das Klima gut vertrug. Unterdessen hatte nämlich die Regenzeit eingesetzt.
Regen wie diesen hatte Betty niemals zuvor erlebt. Das Wasser kam wie ein Schwall vom Himmel herab und begoss al les, was nicht unter einer dicken Plane verhüllt war. In wenigen Augenblicken stand das Deck der Cressida knöcheltief unter Wasser, was vor allem darauf zurückzuführen war, dass es zur Mitte hin eingebuchtet war. Während es regnete, zeigte sich niemand von der Mannschaft an Deck, aber sobald es aufgehört hatte, aus allen Himmeln zu gießen, rannten zwei oder drei
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