Die Teeprinzessin
für ihren Tee? Ein weiteres Mädchen erschien und flüchtete sich sogleich unter den Umhang ihrer Mutter, wo es leise zu wimmern begann.
Aus den Augenwinkeln sah Betty, wie Sikki sich an Deck schlich. Wie gut, dass ihr nichts geschehen war! Sikki tastete sich langsam näher, Stückchen für Stückchen, und hatte bald Bettys Hand erreicht. Ihre kräftigen Finger hielten Betty eisern fest, sosehr diese die Hand auch winden mochte. Schon
wurden die letzten sechs Teepakete an Deck getragen. Dem federnden Schritt der Piraten nach zu urteilen, waren sie überaus zufrieden mit ihrer Beute. Der letzte Pirat drehte sich sogar noch leutselig um und winkte den Passagieren zu. Dann war auch er endlich verschwunden.
Der Gestank von Alkohol und Wanzenkraut ließ langsam nach. Noch eine Weile hörte man die Schläge der Ruderblätter, die ins Wasser eintauchten, dann verstummten auch sie. Niemand an Deck mochte sich bewegen. Betty und Sikki standen starr da und sahen zu, wie sich schließlich einige der Frauen erhoben und die Toten zudeckten.
Nur vor dem Schornstein regte sich eine lange hagere Gestalt. Mister Burman richtete seinen hageren Körper auf und legte den Kopf zuerst auf die eine und dann auf die andere Seite, um sich die Odysseuskugeln aus den Ohren zu nesteln. Dann richtete er sich zu seiner ganzen Größe auf, während er unverhohlen gähnte. »Guten Morgen, die Damen! Schon wach?« Er setzte sich langsam in Bewegung und stakste unter Deck, vermutlich, um sich seiner Morgentoilette hinzugeben. Wie erstarrt schauten ihm die auf dem Deck Zurückgebliebenen nach.
In den Lagerräumen wurde nun gerufen und gestampft, dann kündeten lautes Zischen und eine stickige Kohlenqualmwolke davon, dass die Dampfmaschine wieder unter Feuer stand und dass sich das Schiff erneut in Bewegung setzen würde. Unter den Passagieren erhob sich ein Palaver darüber, was mit den Toten zu geschehen habe. Sollte man nicht doch ein Boot aussetzen und den Verstorbenen ein Grab an Land zuteilwer den lassen, damit ihre Seele Frieden fände? Sollte man sie gar für die restliche Reise bis nach Kanton aufbahren und dort beerdigen? Schließlich formierte sich ein Grüppchen unter dem Vorsitz des Steuermanns, der keine der beiden Möglichkeiten
guthieß, und alle Verstorbenen wurden in Tücher gewickelt, nacheinander auf eine kurze Planke gelegt und kurzerhand und unter dem Beten und Wehklagen der Hinterbliebenen über Bord geworfen. Die Frau, deren Schwester geköpft worden war, rief in die Nacht hinaus, dass sie nicht weinen könne bei der Hitze und dass ihr die Wärme die Luft zum Weinen nähme. Im Osten dämmerte bereits ein milchiger Morgen. Eine weiche Nebelschicht schwankte über dem Wasser und deckte alles zu, die Spur der Diebe und die der Toten.
Betty konnte nicht einmal mehr Mitleid empfinden. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nur an ihren Tee dachte. Tränen liefen über ihre Wangen. Nicht nur dass sie ihre wertvolle Handelsware verloren hatte und ihren einzigen Besitz - der Tee war ein Geschenk des Mannes gewesen, den sie immer lieben würde und dessen Liebe sie irgendwo in einer dunklen Nacht in den Hügeln von Darjeeling verloren hatte. Warum war alles so gekommen?
Sikki hielt ihre Hand fest und zog sie ein wenig zu sich herum, sodass Betty nicht mehr auf das Deck sehen musste, sondern aufs Wasser blickte. »Der schöne Tee!«
Betty klammerte sich immer noch an Sikkis Hand.
»Darf ich Sie etwas fragen, Miss? Warum haben Sie Mister Jocelyn verlassen?«
Beim Gedanken an Darjeeling hatte Betty das Gefühl, vor Kummer und Sehnsucht zu zerfließen. Wieder strömten die Tränen. »Wusstest du von Ava?«
Sikki hatte sich von ihr losgemacht. »Aber natürlich. Ein wunderbares Mädchen. Sie hat in der ersten Zeit ja bei Mister Jocelyn im Herrenhaus gewohnt. Aber dann kehrte ihre Krankheit wieder zurück, und es wurde für besser erachtet, sie in einer Klosterschule unterzubringen, wo sie unter Aufsicht ist und auch etwas lernt. Mister Jocelyn musste sich ja um seine
Teegärten kümmern. Und wie Sie wissen, war er länger in Europa, als er ursprünglich geplant hatte. So war die Klosterschule ein guter Ort für Ava. Das Wissen lenkt manche Menschen von ihren Abgründen ab. Wissen ist eine Art Medizin. Und Tee ist eine besonders gute Medizin. Das glauben die Menschen bei uns.«
»Avas Opiumsucht ist eine Krankheit?« Betty spürte selbst, dass ihre Stimme wenig mitleidig klang.
Auch Sikki hatte es bemerkt. »So empfinden wir es. Ava
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