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Die Teeprinzessin

Titel: Die Teeprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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denen immer nur Männer am Wegesrand standen, niemals aber Frauen oder Kinder.
    Der Staub drang in die Kutsche ein, und Betty schmeckte den Kalk auf der Zunge, ohne aber seinen Geruch wahrnehmen zu können. Oder war er ohne Duft, grau, heiß und leblos wie die Landschaft, durch die sie dahineilten?
    Schon seit einigen Tagen war ihr aufgefallen, dass es in dieser Gegend des amerikanischen Kontinents besonders wenige Pflanzen gab und fast überhaupt keine duftenden Blüten. Das Meer, das sie hinter den drei Fenstern auf der rechten Seite
der Kutsche sahen, schlug mit kräftigen Wellen an die Strände, aber es verströmte nicht den vertrauten Geruch von Algen, Fisch und Ferne. Die wenigen mexikanischen Siedlerhäuser, die sie passierten, schienen ebenso geruchlos wie unscheinbar zu sein, ihre winzigen, schiefen Maisfelder verströmten nicht einmal dann ein bestimmtes Aroma, wenn Staubkörnchen im Sonnenlicht über den Spitzen ihrer wippenden Kolben tanzten. Und was war mit ihren Reisegenossen? Hatten sie nicht alle seit mehr als zwei Wochen nur das trübe Nass in der üblichen Zinkwanne der Stationen gesehen?
    »Sikki! Wach auf!«
    Nach einer nervenaufreibenden Passfahrt über einen Gebirgsausläufer hatte nun sogar Ambrose seine stumme und kritische Beobachtung der Reisenden aufgegeben und sich ebenfalls in den Schlaf geflüchtet, sodass Betty über ihn hinüberlangen konnte, um die Dienerin zu rütteln. »Sikki! Wonach riecht es hier?«
    Sikki runzelte die Stirn. »Meine Stellung als Dienerin einer Dame verbietet mir, über Ausdünstungen von fremden Männern zu sprechen«, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Vielleicht sollten Sie mich eher fragen, wonach es hier nicht riecht, das kann ich sagen. Es riecht hier nicht nach Rosen und nicht nach Veilchen.« Damit lehnte sie den Kopf an die Tür und schlief einfach weiter.
    Betty sog geräuschvoll die Luft durch die Nase ein. Was war geschehen? Sie roch gar nichts. Und sie sah kein Bild vor sich, wenn sie einatmete. Keinen fernen Wald, der die Farbe seiner Düfte hinüberwehen ließ, keinen Regen, der sich über ihnen sammelte, nicht einmal die gleißende Sonne konnte sie noch riechen. Und was war mit den Pferden? Immerhin sechs große Rösser, die so oft im Galopp gehalten wurden, dass sie immer nass wie nach einem Regenguss in den Stationen ankamen.
Und was war mit den kleinen Dingen? Betty roch sie nicht mehr. Weder den Gestank der mehligen Schuppen auf den Schultern des Priesters noch die trüben Schweißperlen an den Schläfen von Mister Teufel und noch nicht einmal das, was die Flecken an der Hose des alten Mannes verursacht haben mochte.
    War es möglich, dass ihr Geruchssinn ihr abhanden gekommen war? Sie erinnerte sich genau an den Tag der Abfahrt und daran, wie sie unter dem Mief in der Kutsche gelitten hatte. Was war geschehen? Und hatte sie mit dem Geruchssinn auch der Schmerz verlassen? Oder war es eher umgekehrt? Fühlte sie noch Trauer? War ihr Herz schwer, wenn sie an Francis dachte, oder war es einfach taub? Betty konnte es nicht sagen.
    Sie fuhren durch eine riesige graue Ebene. In weiter Ferne graste eine Büffelherde, ein Raubvogel kreiste hoch oben im weißlichen Himmel und schwebte dann ins Nichts. Und für einen winzigen Augenblick wusste Betty nicht, ob sie noch lebte oder ob sie bereits gegangen war.

4
    Sie erreichten St. Louis noch vor dem Abend des vierundzwanzigsten Tages ihrer Reise. Von Stunde zu Stunde war es kälter geworden. In der trockenen Luft waren die Pferde schnell gegangen, ohne dass der Kutscher seine Peitsche hatte knallen lassen müssen. Nun aber lag ein Hauch von Schnee in der Luft. Betty spürte es nur an der eisigen Luft, und sie sah, dass die Wolken schwer waren. Kaum war die Kutsche unter dem Gejohle eines großen Publikums in die Station eingelaufen, da zerstreute sich die Reisegesellschaft in alle Richtungen. Sogar Mister Teufel, der während der 2900 Meilen nicht mit Worten
gespart hatte, wurde wortkarg und federte ohne einen Abschiedsgruß auf seinen kleinen dicken Füßen die Straße hinunter. Ambrose machte ein Gesicht, als ob er noch etwas sagen wolle, schlug dann aber nur abwehrend mit der Hand durch die Luft und eilte seiner Wege. Sogar der Kutscher überquerte im Laufschritt die Straße und verschwand in einem Etablissement namens »Arctic Saloon«.
    Es war, als ob alle am Ende ihrer Geduld miteinander waren. Nur Betty fühlte sich auf eine seltsam kühle Art ausgeschlafen. Die Stadt St. Louis wirkte

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