Die Teeprinzessin
sauber, aufgeräumt und großzügig. Oder lag das nur daran, dass Betty ihre Gerüche nicht mehr wahrnehmen konnte?
Wie es aussah, reichte der Arm von Tante Wang und den Weißen Tigern tatsächlich noch bis hierher, auch wenn er bereits etwas kraftloser war. Vor der Station wartete eine der grünen Kutschen auf Betty, die dem Transport in die umliegenden Hotels vorbehalten war. Im »Four Seasons of St. Louis«, direkt gegenüber von einem riesigen Gerichtsgebäude mit weißer Kuppel, war ein Zimmer für eine Nacht reserviert. Zudem lagen dort die Fahrkarten für die Reise nach New York am kommenden Morgen bereit - ein dickes Bündel mit vielen verschiedenfarbigen Billetts und Passagekarten für acht unterschiedliche Züge und vier Fähren, die auf dem Weg dorthin benutzt werden mussten, bis in einigen Jahren die direkte Verbindung fertig sei. Nur mit dem angeforderten Platz im Heu für Sikki tat sich der Hotelbesitzer schwer. Es sei nicht üblich, Bedienstete im Heu schlafen zu lassen. Oder war Sikki etwa eine Schwarze? Sein Blick schien sie zu durchbohren. In diesem Falle würde man schon ein Plätzchen im Keller des Hotels finden, mit oder ohne Heu.
Betty fragte sich, wie der Hotelportier an das Schreiben von Tante Wangs Leuten gekommen war, stellte dann aber fest,
dass es sich offenbar in derselben Postkutsche befunden hatte, in der auch sie angereist war. Sogar eine Wache für die Teeladung war irgendwo organisiert worden. Der schmächtige Mann trug die braungraue Uniform eines Soldaten und ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, um die Ware zu verteidigen.
Das »Four Seasons of St. Louis« schien eines der besten Häuser am Platze zu sein. Über dem Empfangstisch hing ein Hamburger Kronleuchter, eine der Wände war mit bunten Plakaten über kommende Veranstaltungen tapeziert. Da waren ein Varieté angekündigt, der Auftritt eines Bauchredners und ein Theaterstück über die Entdeckung Amerikas. Bettys Blick schweifte zu dem Plakat, das daneben aufgehängt war. Es bewarb das jährliche Treffen der Pelzhändler und der Trapper in der Pelzhauptstadt der Welt. Der Name »St. Louis« war dazu ganz aus kleinen weißen Fellen gestaltet worden. Die feinen Härchen bewegten sich im Wind. Daneben aber prangte eine Fotografie. Es war das Porträt des Mannes, der zum diesjährigen Chairman der Internationalen Vereinigung der Pelzhändler gewählt worden war. Und Betty hatte es schon einmal gesehen. Dieser seltsam leere und zugleich zufriedene Ausdruck! Die weißen Wimpern! Das dünne Haar! Es war niemand anders als Theodor Tollhoff, der ihr da entgegenschmunzelte. Betty hatte das Gefühl, sich am Empfangstisch festhalten zu müssen.
Der Portier nickte ihr zuvorkommend zu. »Bestimmt kennen Sie Herrn Tollhoff. Ein berühmter Mann. Ein Wohltäter unserer Stadt. Er ist ja ebenfalls aus Deutschland, so wie Sie.«
»Deswegen muss ich ihn aber noch lange nicht kennen«, platzte es Betty heraus. »Auch wenn Ihnen das entgangen sein sollte - Deutschland ist kein Dorf. Es ist auch ein großes Land!«
Der Portier verbeugte sich unterwürfig. »Verzeihen Sie mir,
Miss, ich kann es nicht wissen, denn meine Vorfahren kommen aus Frankreich, und dort haben sie uns schon in der Schule beigebracht, dass Deutschland ein kleines Land sei. Aber ganz wie Sie befehlen, Miss. Wünschen Sie vielleicht ein Treffen mit Mister Tollhoff? Die jungen Damen sind ganz verrückt nach seinen Schneefüchsen. Sie sind wunderbar warm und leicht. Ich könnte ein Zusammentreffen arrangieren!« Er senkte die Stimme. »Auf eine dezente Art! Wir erwarten ihn übrigens jeden Moment zurück.«
Sikki musterte den Portier verwundert und schob sich dann zwischen Betty und ihn. »Was ist mit Ihnen los, Miss? Gibt es ein Problem?«
Betty schüttelte den Kopf. »Wann fährt der nächste Zug nach New York?«
Der Portier lachte auf. »Nun, eine direkte Eisenbahnverbindung gibt es noch nicht. Aber wenn Sie es tatsächlich vorziehen, unsere schöne Stadt gleich wieder zu verlassen, könnten Sie mit ein bisschen Glück noch den letzten Zug in Richtung Sandoval und Cincinnati bekommen, der hätte dann Anschluss an den Zug nach Parkersburg und dieser wiederum an den nächsten Zug nach Baltimore. Bis Philadelphia gibt es seit Tagen große Streckenverzögerungen, es ist immerhin Winter. Daher weiß ich auch nicht, ob die Fähren fahren, die auf dem Eriekanal jedenfalls verkehren nicht. Sie müssten jedenfalls die Fähre nach Camden nehmen, dann den Zug nach South Amber und
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