Die Teeprinzessin
getragen - als Gegenleistung für ein einziges Pfund Chinatee. Er habe sich nach diesem Handel sofort zur Ruhe gesetzt.
Nun war Albert Asmussen mit dem ihm verbliebenen Hab und Gut, mit den Dienstboten und natürlich mit Anton ins Nebengebäude zu genau dieser Henny von Mux gezogen, einer betagten Dame, die seine Großtante und in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von dem war, was Asmussen schätzte und hochhielt. Ihre Verschwendungssucht! Ihre verrückten Ideen! Ihre Marotten! Ihr ganzer Lebenswandel! Manch einer in der Stadt rümpfte die Nase über sie. Nur dass sie so wohlhabend war, verlieh ihr vor den Emder Bürgern einen gewissen Schutz.
Einen großen Teil ihres Vermögens verdankte die betagte Dame ihrem ersten Ehemann, einem britischen Handelsdelegierten, der das Pech gehabt hatte, von einer mehrjährigen Dienstreise nach China nicht wieder zurückzukehren. Sein Schiff, die »König von Preußen«, sank wenige Seemeilen vor Emden - am Tag bevor er seine junge Ehefrau wieder in die Arme hätte schließen können. Henny heiratete daraufhin einen holländischen Arzt, den sie auf seine Reisen nach Java begleitete. Als der nach einer Masernepidemie das Zeitliche gesegnet hatte und sie als wohlhabende Witwe zurückließ, zog Henny von Mux, wie sie nun hieß, allein nach Amsterdam, wo sie den jungen Forschungsreisenden Forster kennengelernt hatte. Das junge Paar, das niemals heiratete, lebte einige Jahre lang in Indien, und erst als ihr Geliebter starb und Henny wenig später an der Gicht erkrankte, rettete sie sich nach Emden in das Haus ihres jüngeren Bruders. Dem war die schrille ältere Schwester unangenehm und er nahm sie nur äußerst ungern bei sich auf,
akzeptierte allerdings gern ihre großzügigen finanziellen Zuwendungen und die Aussicht auf ein erfreulich hohes Erbe. Allerdings ahnte er nicht, dass Henny auch einer Diphtherie die Stirn bieten und bald seine komplette Familie überleben würde. Einzig Albert Asmussen, der Sohn des alten Teehändlers, schien ebenso robust zu sein wie seine angeheiratete Tante. Und ebenso störrisch. Sie konnten einander nicht leiden.
Mit dem Umzug zu seiner Großtante war nicht nur Anton Bettys Blick entzogen. Offenbar war auch Asmussen damit aus der unmittelbaren Umgebung seines Freundes Henningson entschwunden, so als befänden sich beide Nachbarn nun in weiter Ferne auf einem fremden Kontinent.
Betty ahnte, warum das so war. Vier oder fünf Mal war sie in den vergangenen Jahren mit Anton bei seiner Großtante gewesen, die, obwohl sie direkt nebenan wohnte, Tausende von Meilen von ihnen weg zu leben schien. Das fing schon damit an, dass sie ausschließlich die erste Etage ihres großen Wohnhauses bewohnte, denn nur dort waren ihr die Decken hoch genug, so hoch wie damals in Indien. Alle anderen Etagen standen leer. Die Wände des Hauses waren mit Gobelins und dicken Seidentüchern in den Farben fernöstlicher Gewürze behangen. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren stets zugezogen, damit die Hitze nicht ins Haus gelangte. Dass es in der Seehafenstadt Emden fast niemals wirklich heiß wurde, schien in der Logik von Henny von Mux keine Rolle zu spielen.
Henny pflegte ihre Tage in ihrem großen hohen Bett zu verbringen und nur des Nachts gelegentlich durch ihr Haus oder durch die Nachbarschaft zu geistern, angeblich weil sie nicht wollte, dass irgendjemand sah, wie sie sich nur noch zentimeterweise bewegte. Neben dem Bett von Henny von Mux stand stets ein polierter Rosenholztisch mit einem Teeservice darauf. Benjamina, ihre erste Magd, hatte nichts anderes zu tun, als
ständig für frisch gebrühten Tee zu sorgen. Und gelegentlich einmal den Nachttopf auszuleeren, wenn der Tee den ausgemergelten Körper der alten Dame zu schnell wieder verlassen hatte. Niemand schien die alte Dame zu mögen. Gesellschaftliche Kontakte unterhielt sie nicht. Selbst Anton sprach nur sehr distanziert von seiner Großtante.
Bettys Tage strichen dahin, indem sie sich ihre Erinnerungen an die Zeit vor dem Brand ins Gedächtnis zurückrief. Bisweilen kam ihr auch der junge asiatische Teehändler in den Sinn, doch verdrängte sie den Gedanken an ihn sofort wieder. Nach einigen Wochen gestattete man ihr, sich wenigstens für ein paar Stunden am Tag in die Gartenlaube zu setzen. Aus den wenigen Stunden wurden viele, so als erwarte man Betty kaum noch im Haus zurück. Wenn Leute an der Hecke vorübergingen, die das Blattwerk mit dem Kopf überragten, schauten sie nach einem kurzen
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