Die Teeprinzessin
Gartentür.
Nur Betty ließ sich nicht auswechseln. Einmal trat Liesettchen, ihre alte Schulfreundin, auf sie zu und wollte ihr einen Eimer aus der Hand winden, aber Betty schüttelte nur stumm den Kopf und hielt den Griff umso stärker fest. Ihre Füße in den dünnen weißen Sommerstrümpfen und den ehemals cremeweißen Spangenschuhen waren durchnässt. Das Kleid war nass und verschmiert und es klebte unschicklich eng an ihren Oberschenkeln. Einer der Ärmel des Kleides war aufgerissen. Der Riss an der Taille, der ihr am Morgen so peinlich gewesen war, hatte sich zu einem klaffenden Loch vergrößert, heraus hing ein Zipfel ihres Unterhemdchens. Betty hob den nächsten Eimer und reichte ihn weiter.
Irgendwann, als schon die späte Nachmittagssonne glühte, spürte sie einen festen Griff an ihrem Oberarm. »Mitkommen«, krächzte Frau Pannfisch und hustete in das zusammengeknüllte Taschentuch, das sie sich mit der anderen Hand vor den Mund presste. Dann zog sie Betty durch die Gasse ins Haus hinein, schob sie vor sich her den Flur entlang und führte sie in ihr Zimmer. Betty spürte noch das Kissen unter ihrer Wange, dann wurde alles um sie herum schwarz und weich.
3
Als Betty am folgenden Morgen erwachte, war das Feuer im Dachstuhl des Teehandelshauses erloschen und mit ihm das Geschrei in der Gasse. Nur der säuerliche Brandgeruch hielt sich noch zwischen den Häusern. Und eine unheimliche Stille, die wie der Gestank und der fettige Ruß in jede Ecke zu zie hen schien. Betty hatte sich noch in der Nacht ein Tuch über Mund und Nase gebunden, um nicht jeden einzelnen Gegenstand riechen zu müssen, der drüben bei den Asmussens in Flammen aufgegangen war und der nun bis in ihre Träume hineindrang: Der süßliche Duft eines alten Kissens schien mit dem Moder des Wandgobelins im Kontor zu ihrem Fenster hineinzuschwingen, der fischige Atem des verkokelten Küchensofas drängte sich durch die Türritzen und ihre eigenen Händen rochen nach versengtem Haar, wie Betty angewidert feststellte. Sie hoffte inständig, dass sie Frau Pannfisch würde überreden können, ihr ein Bad zu bereiten, obwohl der Freitag noch fern war. Sie würde auch eines mit kaltem Wasser nehmen. Und nur die harte und eckige braune Seife verwenden. Hauptsache, sie fühlte sich wieder rein. Vielleicht ließe dann auch die Betäubung nach, die sie verspürte.
Allmählich drängten sich Fragen in ihrem Kopf. Was war mit Anton geschehen? Wie ging es ihm? War er unverletzt?
Und hatten ihr Vater und Antons Vater das Feuer gesund überstanden? War das alles ein böser Traum? Sie hob ihre klebrigen Hände und stellte fest, dass sie die Spange des jungen chinesischen Kaufmanns eng umkrallt hielt. Also war es wohl doch kein Traum gewesen. Sie stand auf und legte die Spange in eine Schatulle in ihre Kommode. Dann tappte sie durch den Flur zur Küche.
Zu Bettys großer Überraschung saßen ihr Vater, der Geselle Elkhuber, Frau Pannfisch und Trude, die rotwangige Magd aus dem Rheiderland, einträchtig um den Frühstückstisch und löffelten Roggenbrei, als wäre nichts geschehen. Die Sonne schien ungerührt durch die gewölbten Scheiben des Küchenfensters, die um den Tisch Versammelten unterhielten sich leise. Elkhuber neckte die Magd, wie so oft. Da sie seinen Dialekt nicht verstand, kicherte sie. Wenn man von dem Brandgeruch absah, der auch in der Küche hing, wies nichts mehr auf das Inferno des Vortages hin. Oder nahmen die anderen den Gestank nur nicht wahr?
Als Betty an den Tisch trat, blickte Berthold Henningson über seine Brille hinweg und maß seine einzige Tochter vom Scheitel bis zur Sohle. »Ich bitte dich sehr, Kind, doch nicht in diesem Aufzug!«
Betty fuhr sich mit einer Hand durch die verfilzten Haare. »Guten Morgen. Ich wollte nur fragen, ob ich ein Bad nehmen kann?«
»Ein wenig appetitlich muss ein Mädel aber schon sein, wenn es sich anderen zeigt«, kritisierte nun auch der Geselle Elkhuber, während ihm der dünne Roggenbrei und der viele Honig, den er wieder einmal genommen hatte, aus den Mundwinkeln troff. Trude nickte zustimmend und kicherte in ihre
Breischüssel hinein, gleich darauf empfing sie von Frau Pannfisch eine kräftige Kopfnuss.
»Mach dich bitte ordentlich zurecht, Betty!« Berthold Henningson rührte verlegen in seiner Tasse. »Und Stubenarrest hast du bis auf Weiteres!« Er tat sich hörbar schwer damit, seiner einzigen Tochter gegenüber Strenge walten zu lassen. »Genau wie dein Freund Anton übrigens.
Weitere Kostenlose Bücher