Die Teeprinzessin
draußen. Arbeit gab es seit ein paar Wochen nicht mehr viel. Nicht einmal Staub schien sich mehr in den feuchten Räumen zu bilden.
Betty hatte in der Küche gesessen und Papiermanschetten für Hühnerkeulen gefältelt, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Es schien aus der Mädchenkammer zu kommen. Sie blickte nicht einmal auf. Die Wärme machte sie träge und schlapp. Heute hatte sie nicht einmal Lust, sich mit Anton und Ismael zu treffen, ein Ereignis, auf das sie sich sonst immer die ganzen zwei Wochen lang freute. Alida Meier war nach Altona gegangen, um ihren Bruder zu besuchen. Auch Fenja schien nichts weiter vorzuhaben. Mit Jan-Hinnerk traf sie sich schon seit einem Monat nicht mehr. Sie war oft müde und sie aß nicht gut, fiel Betty auf. An den Sonntagen lag sie jetzt immer in der Kam mer auf ihrem Strohsack und tat, als ob sie schliefe. Aber Betty merkte genau, dass das nicht der Fall war. Ihre Lider zuckten, wenn man sich über sie beugte.
Nebenan schabte etwas auf dem Boden.
»Fenja, bist du das?«
Niemand antwortete. Betty, die sich sonst viel auf ihre Fantasie zugutehielt, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Fenja da drüben machte. Zog sie einen Koffer über den Boden? Aber sie besaß ja nicht einmal einen.
Betty erhob sich schwerfällig und wischte ihre Hände unwillkürlich an ihrer Schürze ab. Das war auch eine ihrer neuen Angewohnheiten. Alle Hausmädchen taten das. Daran konnte man sie erkennen, selbst wenn sie später eine ganz andere gesellschaftliche Stellung innehatten, sagte Alida Meier immer.
Die Tür zur Mädchenkammer war verschlossen. Betty drückte sie langsam auf.
Die Kammer war leer.
Betty blinzelte. Über den Strohsäcken lagen die ordentlich gefalteten Schlafdecken der Mädchen, daneben standen ihre Kisten, in denen sie ihre persönlichen Gegenstände aufbewahr ten. Die weiß gekalkten Wände schimmerten matt. Eine flinke Spinne huschte eben über die schmale Holzverkleidung an der Westseite. An den Wandhaken hingen die Servierhauben der Mädchen. Hier war niemand! Wie konnte das sein?
»Fenja? Bist du hier?« Bettys Stimme war heiser. Sie hatte doch selbst gehört, wie Fenja sich in der Kammer zu schaffen gemacht hatte. Wie konnte sie aus dem fensterlosen Raum verschwunden sein?
Bettys Hände und Beine waren verschwitzt. In der Kammer war es angenehm kühl. Dennoch spürte sie plötzlich einen eiskalten Hauch. Ihr Herz klopfte wild. Eine der Hauben hatte sich bewegt.
Die Haube hing direkt über dem Wandstückchen mit der Holzverkleidung. Betty machte ein paar vorsichtige Schritte und berührte die Haube mit der Hand. In diesem Moment schien ein Stück der Wand nachzugeben. Es schwang unter Bettys Händen fort. Das war keine Wandverkleidung. Es war eine Tür, die sich in einen anderen Raum öffnete. Die Kälte, die aus diesem Raum kam, machte Betty frösteln. Das musste der Eiskeller sein, von dem Ismael ihr erzählt hatte. Es gab hier also doch so einen Raum!
Betty drückte die schwere Tür langsam ganz auf und spähte hinein. Der Raum war rundherum mit Regalen ausgestattet, die zur Aufbewahrung der Tierfelle gedient haben mochten. Bis auf ein oder zwei mumifizierte Füchse, die Betty aus hohlen Augen entgegenblickten, waren sie leer. Hinter den Regalböden sah man die aufgetürmten Strohballen, die wohl die Kälte des Raumes bewahren sollten. Für die Eisblöcke, die am Ende des Winters hier eingelagert wurden und die bis in den Sommer hinein
für das kühle Klima sorgten, gab es große hölzerne Abtropfroste. Betty konnte darauf aber kein Eis mehr erkennen. Vermutlich war alles schon geschmolzen. Nur die Kälte war geblieben.
Fenja hatte ein Talglicht entzündet und es in die Mitte des Bodens gestellt. Sie saß daneben auf dem kalten Boden und grub verzweifelt in einer Kiste. Betty hockte sich neben sie und strich ihr mit einer Hand das verklebte Haar aus dem Gesicht. »Fenja! Was machst du hier?«
Fenja antwortete nicht. Sie wühlte einfach weiter.
Betty sah, dass die Kiste verschiedene Kleidungsstücke eines jungen Mädchens enthielt, ein kleines, in bedrucktes Papier eingeschlagenes Journal, Strümpfe, Hauben, Leibchen und Strumpfhalter. Fenja schüttelte einige der Kleidungsstücke, so als ob etwas daraus hinausfallen könne, dann warf sie alles achtlos auf den Boden.
Endlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte. Sie stieß einen heiseren Schrei aus, hielt einen kleinen blauen Samtbeutel in die Höhe und riss ihn an der Naht
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