Die Teeprinzessin
Einen winzigen Augenblick lang hatte Betty das Gefühl, dass er ihre Augen in der dunklen Kutsche sah, doch dann verschwand er ohne ein Wort eilfertig wieder im Haus.
Anton war so aufgeregt, als müsse er selbst abreisen. »Den besten Tee sollst du kaufen, Betty, hast du gehört! Nur hohe Qualität! Wir brauchen auch weißen Tee, wenn möglich. Anhui wäre gut, oder anderer Bergtee, achte auf die hohen Lagen. Und probiere die Ware. Wichtig ist, dass der Tee gut und fest verpackt ist. Wenn sie die Teekisten lackieren wollen, umso besser. Du erkennst die besten Sorten an..., ach, was sage ich, du weißt es selbst am besten!«
Betty wurde es zunehmend mulmiger zumute. Würde man sie aufhalten, wenn sie an Bord ginge? Und was wäre, wenn der Kapitän sie sprechen wollte? War es nicht üblich, dass er zumindest die Passagiere in den Eignerkabinen persönlich begrüßte? Aber Aberdira wollte davon nichts wissen. Magdalene würde verbreiten, dass der vermeintliche Anton sich große Sorgen um den Firmeninhaber mache. Bei einer Abreise zu
dieser Jahreszeit war zudem raues Wetter zu erwarten. Dabei fürchteten viele Passagiere nicht etwa die Seekrankheit. Sie hatten vielmehr Angst, von hochgehenden Wogen über Bord gewischt zu werden. Die großen Segler hatten keine Relings wie die neueren Dampfschiffe, auf denen mittlerweile die meisten Reisenden fuhren. Und dabei hätte man ausgerechnet auf einem Segelschiff, das selten gerade im Wasser lag, etwas zum Festhalten gebraucht. So blieben die Passagiere oft während der ganzen Überfahrt unter Deck. Den meisten genügte es schon, wenn sie alle paar Tage einmal den Kopf ins Freie streckten.
Bettys Kabine war der größte eigene Raum, den sie in den vergangenen Monaten bewohnt hatte. Die Wände und die Decke waren mit Mahagoni verkleidet, die Koje war schon fast ein richtiges schmales Bett mit einem gestreiften seidenen Überwurf. An der Wand standen ein Arbeitstisch mit einem Kartenständer und ein nach hinten abgeschrägtes Bücherregal. Diese Bauweise sollte wohl verhindern, dass bei rauer See die Bücher im Raum herumpurzelten.
Belichtet wurde die Kabine durch eine Lamellenluke an der Decke. Nebenan war sogar ein eigener, vom Rest des Schiffes abgeschlossener Gepäckraum. Er diente gleichzeitig als Abort, wie der in einem Holzring aufgehängte Eimer in einer Ecke verriet. Nur einen Spiegel gab es in der Kabine nicht, stellte Betty fest. Es hätte sie nicht weniger interessieren können. Die Beinkleider fühlten sich schmal und ungewohnt an, mit dem engen Kragen konnte sie kaum schlucken. Sie würde die ungewohnte Kleidung ablegen, sobald das Schiff auf hoher See war, und dann erst wieder anziehen, wenn sie Kanton erreicht hatten. Betty Henningson hatte nicht vor, sich an Deck den Wind um die Ohren pusten zu lassen.
Die Zeit, in der sie ihre persönliche Habe in den Schränken verstaute, nutzte Aberdira dazu, mit einigen Seeleuten aus der
Mannschaft zu sprechen. Viel brachte er jedoch nicht in Erfahrung. Als er in Bettys Kabine zurückkehrte, um sich zu verabschieden, wusste er nur, dass Kapitän Ruster als bärbeißiger und wortkarger Mann galt, seine Leute aber gern mit ihm fuhren, da er über viel Erfahrung verfügte und sich durch seine Gerechtigkeit auszeichnete.
Bei dieser Reise würden außer der jungen Magdalene Schrittmacher und einer älteren Gesellschafterin auf dem Weg nach Hongkong, einem gewissen Fräulein von Precht, noch ein bremischer Unterhändler mitfahren, der erkunden sollte, ob Hannover, Hamburg, Bremen, Lübeck und Oldenburg einen gemeinsamen Konsul in die nun in China für den Handel geöffneten Hafenstädte entsenden sollten oder nicht. Zudem reiste noch eine Familie aus München mit. Der Mann war Arzt. Für ihn, so hatte Aberdira erfahren, war Kanton nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Japan. Zwei der acht Kabinen auf diesem Schiff würden leer nach China reisen und auf der Rückfahrt vermutlich mit den besten Partien Tee gefüllt werden, die den Aufenthalt in den salzigen und muffigen Laderäumen wohlmöglich nicht überstehen würden.
Der Abschied von Aberdira fiel ebenso kurz wie kühl aus. Wie zuvor schon Anton hatte er ihr nur kurz zugenickt und sich dann abgewendet. Betty war das gleich. Kaum hatte sich die schmale Tür der Kabine hinter ihm geschlossen, ließ sie sich erschöpft auf die Holzkante der Koje fallen. Wie lange war es her, dass sie so dagesessen hatte?
Als die Kommandos zum Ablegen des Schiffes ertönten, war sie
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