Die Teeprinzessin
Kalmen lag. Dann hatte sie Trinidad umschifft und war mit dem Wind der östlichen Driftströmung auf die Südspitze von Afrika zugefahren. Als sie endlich das Kap der Guten Hoffnung umrundeten, waren sie mehr als zwei Monate auf See gewesen und kreuzten nun mit dem Ziel Singapur in Richtung Sundastraße.
Auf See hatte Betty sich sichtlich gekräftigt. Magdalene, von der kaum jemand an Bord Notiz zu nehmen schien, hatte ihr geholfen, einige Nähte aus den neuen Kleidern herauszulassen, und ihr sogar einen kleinen Taschenspiegel mitgebracht, vorgeblich, damit Betty sehen konnte, wie blass sie immer noch war. Aber außer den drei oder vier Malen, bei denen sie ihre Herrenkleider angezogen und sich mitten in der Nacht an Deck geschlichen hatte, um die Sterne anzuschauen, war sie nicht an der frischen Luft gewesen. Die Verpflegung an Bord erwies sich als nahrhaft, aber eintönig. Es gab meist hartes Roggenbrot und eingelegte Heringe, Sauerkraut und saure Äpfel, und dazu Kartoffeln, die von Mahlzeit zu Mahlzeit fauliger schmeckten. An Sonntagen lag stets eine Wurst auf dem Teller, von der Magdalene behauptete, dass sie auch Anteile von Sägemehl enthielte. Als zweites Gericht beherrschte der Koch noch einen Brei namens Rebbdi, der aus Wasser, Fett und Buchweizenschrot
bestand und der mit einem Löffel schwarzen Zuckerrübensirups zu sich genommen wurde.
Als sie an diesem Tag in der Algoa Bay am östlichen Kap von Afrika festmachten, um Wasser und Proviant an Bord zu holen und zwei weitere Passagiere aufzunehmen, schien zunächst alles wie immer. Schwere Lasten wurden an Bord gehievt, überall polterte und krachte es, die Schiffsplanken knirschten unter dem Druck schwerer Schritte. Ein örtlicher Stauer brüllte Befehle in einer Sprache, die Betty nicht verstand. Einige der Matrosen, die offenbar den Tag über Landgang hatten, enterten die kleinen Boote der einheimischen Händler und ließen sich von ihnen für ein paar Stunden an Land bringen. Als die Nacht die Luft über dem schweren Schiff etwas abkühlte, kehrten sie zurück. Kurz darauf wurden die Anker gehievt, und man hörte anhand der Kommandos des Steuermanns, dass die Matrosen wieder in die Rahen geklettert waren, um die Segel zu lösen. Das Schiff knirschte, dann drehte es sich um seine halbe Achse in den Wind.
Betty sehnte zwar den Tag herbei, an dem sie endlich von Bord gehen könnte, aber sie hatte sich an das ruhige Leben in der Kajüte gewöhnt. So war sie froh, als die Fahrt endlich weiterging. In den ersten Wochen hatte noch gelegentlich der zweite Steuermann an die Tür geklopft, um sich zu erkundigen, ob es dem jungen Herrn Anton wohl bald besser ginge. Aber ihm wollte sich Betty keinesfalls zeigen. Magdalene hatte nämlich erzählt, dass er nebenbei auch die Funktion des Bordarztes wahrnahm. Ob ein Arzt den Schwindel schneller erkennen würde als ein in der Heilkunde völlig ungebildeter Mensch?
Jedenfalls musste Betty jedes Mal ihre Stimme verstellen und so etwas wie »Ja, danke der Nachfrage« brummen, wenn er klopfte. Anscheinend schöpfte der Mann keinen Verdacht.
Aber seit längerer Zeit hatten die Nachfragen nun aufgehört, und als sie Kurs auf Indien nahmen, schien der vermeintliche Anton aus dem Gedächtnis der Passagiere und der Besatzung verschwunden zu sein. Nur im Plan des Koches war der stille Passagier wohl noch vorgesehen, denn die Speisen wurden ihr weiterhin regelmäßig gebracht.
Es war eine hübsche Abwechslung, dass Magdalene gelegentlich vorbeikam und ein wenig mit ihr flüsterte. Je näher sie ihrem chinesischen Reiseziel kamen, desto beklommener allerdings wurde es Magdalene zumute. Immer und immer wieder zeigte sie Betty eine kleine Daguerreotypie, die sie in ihrem Medaillon aufbewahrte. Sie stellte den Missionar und zukünftigen Bräutigam dar. Vermutlich war die Fotografie etwas retouchiert. Aber auch so sah der Mann recht grobschlächtig aus und derb. Betty konnte Magdalenes Vorbehalte gut verstehen. So unterschiedlich sie waren, Betty genoss es, nach der einsamen Zeit als Magd bei Aberdira jemanden zum Plaudern zu haben. Sie erfuhr, dass Magdalene achtzehn Jahre alt war und ungeachtet ihres püppchenhaften Aussehens bereits mit drei Männern Verkehr gehabt hatte. »Bei uns kaufen eben nur Männer ein«, sagte sie entschuldigend, »mein Vater ist Zollstockmacher.« Mit dem ersten Mann hätte es wehgetan und geblutet. Mit dem zweiten, der eigentlich mehr ein Junge gewesen sei als ein Mann, war es nach wenigen Augenblicken
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