Die Teeprinzessin
bereits in einen schweren Schlaf gefallen, und während der ersten Tage an Bord stand sie nur auf, um etwas von der dünnen, kalten Suppe zu trinken, die man in einem Krug in ihren Vorraum gestellt hatte, oder um den Eimer aufzusuchen. Draußen brauste ein kalter Wind und auch ihre kleine Kabine
war nicht eben warm. Den meisten Teil des Tages schlief sie in die dicken gesteppten Decken eingewickelt, die - so vermutete sie - nur deswegen so hart und so schwer waren, damit sie die Feuchtigkeit der Luft nicht in sich aufsaugen konnten.
Sie hatten den englischen Kanal schon hinter sich gelas sen, als sie ein zaghaftes Klopfen an der Tür hörte. »Ich bin es, Magdalene«, hörte sie eine leise Stimme flüstern. »Du kannst mir aufmachen.«
Betty rappelte sich mühsam aus der Koje auf und zündete eines der schiefen Lichter aus Walrat an, dann öffnete sie die Tür. Sofort drängt sich eine kleine, mollige Gestalt in einem dicken geblümten Reisekleid zur Tür herein. »Das ist so langweilig da oben, alle reden immer nur über den Opiumkrieg und über die Malaria, ach, was weiß ich! Übrigens bin ich Magdalene! Ich habe schon so viel von dir gehört, Betty!« Sie streckte den Arm aus und ergriff Bettys Hand. »Dein Onkel hat meinem Vater anvertraut, dass niemand wissen darf, dass du die Braut des indischen Vizekönigs werden sollst! Oder war es der chinesische Vizekaiser? Egal!« Sie lachte fröhlich auf. »Und dass du daher als junger Herr an Bord bist, das weiß ich auch. Aber ich verrate nichts. Ehrenwort!« Magdalenes kleine blaue Augen blitzten. Sie prüfte die Festigkeit der Matratze mit beiden Händen, dann wuchtete sie ihren Körper darauf und wippte leicht auf und ab. »Ich werde in China einen Missionar heiraten. Er heißt Johannes, wie Johannes der Täufer, lustig, oder? Aber ich kannte vorher auch schon andere Männer etwas näher. Du auch?«
Betty schüttelte unwillig den Kopf. »Was hat mein Onkel euch denn sonst noch so erzählt?«
»Och«, Magdalene schürzte die Lippen. Sie überlegte so stark, dass sich eine Falte auf ihrer kleinen Stirn bildete. »Die anderen Reisenden sollen denken, dass dir immer so furchtbar
schlecht ist und dass du daher nicht rauskommst. Und dass du ein junger Teehändler bist, das sollen sie denken, hat dein Onkel gesagt. Das war aber auch alles. Die Erwachsenen reden immer nur von langweiligen Dingen oder vom Krieg, der in Ostindien war oder noch ist, was weiß ich, und über den Handel, da höre ich lieber gar nicht erst zu.«
»Aber du bist doch auch schon erwachsen. Immerhin willst du bald heiraten!« Betty lächelte. Ohne dass sie es wollte, munterte das Geplapper von Magdalene sie auf. Wie lange war es her, dass sie selbst mit ihren Freundinnen in Emden oder auch mit Fenja so gesprochen hatte? Sie hätte gern noch länger geplaudert, es war so herrlich leicht und sorglos, aber plötzlich legte Magdalene den Finger an die Lippen und horchte nach oben. »Ich muss schnell wieder rauf, sonst suchen die mich. Ich wohne mit diesem schrecklichen Fräulein in einer Kabine. Sie schläft auch immer nur. Aber wenn sie wach ist, dann stellt sie Fragen. Schließlich kann ich ja schlecht sagen, dass ich mich bei dem jungen Herrn in der Eignerkabine amüsiert habe, oder? Ich komme wieder, sobald ich kann, versprochen!«
2
Betty Henningson hatte das Gefühl, dass die meisten Reisenden die Fahrt schlafend verbrachten. Wie hatte sie sich doch gefürchtet, dass sie einem von ihnen begegnen würde. Aber das geschah niemals. Bis zu einem Tag Anfang Februar 1860.
Sie waren von der Westmündung des englischen Kanals aus auf südsüdwestlichen Kurs gegangen, um den großen Stürmen des Nordatlantiks auszuweichen und schließlich zwölf Meilen östlich von Cap Finisterre an der Westseite von Madeira vorbeigesegelt. Es wurde nur langsam wärmer, aber die Luftfeuchtigkeit
schien zu steigen. Betty hatte den Kurs auf den Seekarten verfolgt, soweit sie das konnte. Zum Glück waren darauf bereits die Mutmaßungen eines vorherigen Reisenden über den Reiseverlauf mit Tinte eingetragen. Von dem wenigen, das Magdalene aufschnappte, wenn sie gelegentlich im Kreise der verbliebenen Passagiere mit dem Steuermann oder dem Kapitän zu Tische saß, konnte Betty in ungefähr abschätzen, wo sie waren. Wie es aussah, segelte die Frieda Maria mit dem Nordostpassat nach den Kapverdischen Inseln, bis sie am 34. Tag der Reise am 19. Grad westlicher Länge den Äquator querte und danach zwei Wochen lang in den
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