Die Teeprinzessin
Schals dazu vorgelegt. Nenzinger kam aus Wien, und anscheinend war er es nicht gewohnt, auf die Wünsche seiner Kunden mit Gegenfragen zu reagieren. Aber als Aberdira auch noch Herrenhosen und Überzieher für Betty forderte und Jabots, die »oben herum«, wie er sagte, alles ein wenig, nun ja, zusammenpressen würden, zog der Schneider doch die Augenbrauen hoch. Als ein Gehilfe schließlich alles aus dem Geschäft geholt und in zwei große Reisekoffer verstaut hatte, sah das Gepäck allein schon von der Menge her nicht mehr aus wie das eines jungen Herrn. Zudem würden ja noch der Koffer von Anton hinzukommen, den er vom Jungfernstieg mitbringen würde. Aber Aberdira murmelte, dass sie sich um solche Details jetzt nicht mehr kümmern konnten.
Viel wichtiger war es ihm, eine Person zu finden, die ebenfalls auf der Frieda Maria nach Ostindien reiste, und zu der man so großes Vertrauen hatte, dass man sie in die Angelegenheit einweihen konnte. Um so eine Person ausfindig zu machen, war Aberdira mitten in der Nacht verschwunden und im Morgengrauen bleich zurückgekehrt, gerade als der Schneider Betty die letzte der noch zu ändernden Hosen anmaß. Aberdira hatte tatsächlich jemanden gefunden. Die Person, der Betty an Bord würde vertrauen können, war eine gewisse Magdalene Schrittmacher, die nach China reiste, um dort einen der ersten Missionare zu heiraten, die die chinesische Regierung zugelassen hatte. Aberdira behauptete, Magdalenes Vater von früher her gut zu kennen, er habe ihn daher in die Sache eingeweiht. Zudem habe Aberdira vor mehr als einem Jahr auch eine Daguerreotypie von Magdalene angefertigt, die man dem zukünftigen Bräutigam vorab geschickt habe. Wunderbar sei das Bildnis geworden, erklärte Aberdira. Hätte der Priester denn sonst etwa eingewilligt, das junge Ding zu ehelichen? Natürlich war es eine Konvinienzehe. Aber Magdalene war die jüngste von
fünf Töchtern eines ohnehin nicht sehr betuchten Zollstockmachers. Eine Mitgift hatte sie nicht zu erwarten. Wie Aberdira behauptete, war der Vater überglücklich, das Mädchen gut untergebracht zu haben, auch wenn dies am anderen Ende der Welt war und er sie vermutlich niemals mehr wiedersehen würde. Magdalene würde nötigenfalls als eine Art Kontaktperson zwischen Betty und den Reisenden oder der Schiffsbesatzung dienen. Dass Betty sich selbst unter die anderen Passagiere mischen sollte, hielt Aberdira nach einem kurzen Blick auf Betty in ihren Jungenkleidern für alles andere als eine gute Idee.
Der Wiener Schneider indes war stolz auf sein Werk. Er blickte wehmütig auf Bettys helle Hosen, die unten auf kalbslederne Jodhpurs stießen, auf den engen Gürtel, die graue Samtweste über dem feinen weißen Leinenhemd, die gebundene Seidenschleife am Hals und den dunklen Überzieher aus zwölffädiger schottischer Wolle. »Aber die junge Dame sieht doch aus wie ein hinreißender junger Herr, zum Niederknien sieht sie aus!«, rief der Schneider verzweifelt. »Sehen Sie dieses Wesen doch nur an! Das fällt doch jedem ins Auge!«
»Eben drum!« Aberdira wandte sich schroff ab.
»So ein Schmarren!«, murmelte der Schneider, verstummte aber, nachdem Aberdira ihm einen Scheck in die Hand gedrückt und ihn und seinen verdutzten Gehilfen auf die Diele hinausgewedelt hatte.
Es war eine der sogenannten »schwarzen Droschken«, die am frühen Nachmittag im Steinweg vorfuhr. Das Verdeck war wegen des Wetters fest verschlossen, die ohnehin kleinen Fenster waren innen mit schwarzen Tüchern verhängt. »Die Remburgs werden das nicht kommentieren«, erklärte Aberdira. »Frau Remburg wird denken, dass Anton ein geheimes Liebchen hat, von dem er sich verabschieden will, und sie wird ihm
dankbar sein, dass er sich nicht an ihren Töchtern ausgetobt hat.« Die Töchter selbst seien zu dumm, um überhaupt irgendetwas zu bemerken. Betty und Aberdira selbst konnten in der Kutsche mitfahren, ohne dass jemand sie sehen würde. Anton würde am Jungfernstieg vor dem Haus der Remburgs einsteigen und für die nächsten Wochen, bis zur Abreise nach Japan, bei Aberdira Unterschlupf finden. Am Hafen angekommen, würde der Kutscher das Gepäck an Bord bringen und Betty würde, begleitet von Aberdira, als vermeintlicher Anton möglichst schnell und unauffällig in der Kabine verschwinden.
In der Tat klappte der Abschied von den Remburgs ganz ausgezeichnet. Der Prokurist ließ es sich nicht nehmen, zwei verdächtig schwere Kistchen mit Silber bis an die Kutsche zu bringen.
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