Die Teerose
an.«
»D-danke«, stotterte sie. Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Der schreckliche Traum war stets so real, so entsetzlich real. Sie sah zu Seamie hinüber. Er schlief. Gleich nachdem sie um sieben Uhr früh eingestiegen waren, war er eingedöst. Sobald der Schaffner ihre Fahrkarten kontrolliert hatte, war auch sie, erschöpft von der Nervenprobe, eingenickt. Seit sie vor fast zehn Stunden Roddys Wohnung verlassen hatten, waren sie auf den Beinen gewesen. Als erstes hatten sie bei dem Leihhaus haltgemacht, um sich eine Reisetasche zu kaufen. Als sie eine Zwanzigpfundnote herauszog, um zu bezahlen, war auch der blaue Stein auf den Ladentisch gefallen, den Joe ihr geschenkt hatte. Der Pfandleiher hatte ihn angesehen und gefragt, ob er zum Verkauf stünde. Fiona fragte sich, warum sie ihn behalten hatte. Joe war fort, warum sollte sie sich an das schmerzliche Erinnerungsstück klammern?
»Wieviel?« fragte sie.
»Ein Pfund sechs Shilling.«
Sie war überrascht über die Höhe des Betrags, antwortete aber nicht gleich, sondern überlegte, ob sie sich davon trennen sollte. Der Pfandleiher glaubte, sie sei mit dem Preis nicht zufrieden.
»Also gut, zwei Pfund und die Reisetasche dazu, das ist mein letztes Angebot.«
Sie sah den Mann verständnislos an. Zwei Pfund für einen Stein und die Tasche noch dazu? Er mußte den Verstand verloren haben. Schnell nahm sie das Angebot an, bevor er es sich anders überlegte.
»Haben Sie noch mehr davon?« fragte er, als er den Stein einsteckte.
»Nein, aber das hab ich noch.« Sie streifte Joes Ring vom Finger und reichte ihn ihm.
»Der ist nicht viel wert. Ich geb Ihnen drei Shilling dafür.«
»Gut«, sagte sie und freute sich, zwei Pfund, drei Shilling und eine Reisetasche reicher zu sein.
Sie packte ihre Habseligkeiten ein und machte sich auf den Weg zur Commercial Road. Sie war sehr nervös. Bei jedem Schritt erwartete sie, Sheehans Stimme zu hören und eine grobe Hand auf der Schulter zu spüren. Sie fühlte sich erst sicherer, als sie schließlich in einer Droschke saßen. Der Kutscher brachte sie zur Waterloo Station, wo sie zum Fahrkartenschalter gingen. Zu ihrem größten Bedauern hatten sie den letzten Zug um zwanzig Minuten verpaßt. Sie kaufte zwei Fahrkarten für den Frühzug und anschließend für sich und Seamie heißen Tee und dicke Specksandwiches. Im Wartesaal für Frauen verbrachten sie die Nacht. Weit weg von den Fenstern. Nur für den Fall.
Als sich Fiona jetzt auf ihrem Sitz streckte, versuchte sie, sich vorzustellen, was als nächstes anstand. Sie mußten den Weg vom Bahnhof zur Anlegestelle der Passagierschiffe finden. Eine Droschke wäre wohl das beste. Das würde Geld kosten, andererseits garantieren, daß sie sich nicht verirrten. Seamie wachte ein paar Minuten vor Southampton auf, und sie hatte gerade noch genügend Zeit, ihm Stiefel und Jacke anzuziehen, bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr. Sobald sie ausgestiegen waren, mußte er auf die Toilette.
»Du mußt noch einen Moment aushalten«, erklärte sie ihm. »Ich weiß nicht, wo das Klo ist.«
Als sie den Bahnsteig hinuntergingen, sah sie eine Reklametafel von Burton Tea und erschauderte. Sie hatte keine Ahnung, wie weit William Burtons Einfluß reichte. Je schneller sie und Seamie auf einem Schiff waren, um so besser.
Schließlich entdeckte sie die Damentoilette, und sie schob ihren Bruder hinein. Wieder draußen auf dem Bahnsteig folgte sie den Schildern zu den Droschken. Instinktiv sah sie sich um, ob Sheehan nicht irgendwo stand, aber der Bahnsteig war leer bis auf einen Mann mit so schwerem Gepäck, daß er kaum gehen konnte. Er taumelte unter der Last seiner Koffer und sah den Stapel Zeitungen nicht, die im Weg lagen.
»Vorsicht!« rief Fiona.
Zu spät. Er stolperte, stürzte hin, und seine Koffer fielen zu Boden. Sie lief auf ihn zu. »Um Himmels willen!« rief sie, griff ihm unter die Arme und half ihm hoch. »Alles in Ordnung? Das war ein schlimmer Sturz.«
»D-Das glaub ich auch«, antwortete er und rappelte sich auf. Er befühlte seine Glieder. »Nichts gebrochen, wie es scheint. Ach, diese Träger, keiner da, wenn man einen braucht.« Er lächelte sie an und wischte sich das Haar aus den Augen. »Nicholas Soames«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus. »Vielen Dank.«
Fiona wollte gerade seine Hand ergreifen, als sie bemerkte, daß sie blutete. »Sie sind verletzt!« sagte sie.
»Ach je. Ich kann kein Blut sehen. Besonders mein eigenes nicht.
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