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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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rücksichtslos wie die Fahrzeuge. Männer flitzten über Kreuzungen und schlängelten sich zwischen entgegenkommenden Kutschen durch. Einer mit einem Bowler auf dem Kopf las im Gehen Zeitung und blätterte, ohne innezuhalten, die Seiten um, während er um eine Ecke bog. Ein anderer hing an einem Lastkarren und verzehrte dabei ein Sandwich. Eine Frau in engem Rock und Kostümjacke eilte mit zurückgeworfenen Schultern, hochgerecktem Kinn und wippendem Federschmuck auf dem Hut zielstrebig die Straße entlang.
    Als die Kutsche die Tenth Avenue hinauffuhr und Fiona und Seamie die großen Lagerhöfe und Fabriken erblickten, staunten sie über die hektische Aktivität, die dort herrschte. Pferdegespanne zogen riesige Papierrollen zu den Druckereien oder Baumwoll- und Wollballen zu den Spinnereien. Männer luden frisch gewebte Teppiche, Weinkisten und Geschirrschränke ab, und aus Lagerhausluken wurden Klaviere zum Transport auf Wagen gehievt. Sie hörten, wie sich die Arbeiter mit lauten Stimmen Anweisungen zuriefen. Sie sahen frisch gewaschene Wäsche, die in der kalten Luft dampfte, erspähten Frauen mit roten Gesichtern, die an offenen Türen Laken auswrangen. Sie rochen den Duft von gerade geröstetem Kaffee und frischen Backwaren, aber auch die weniger verführerischen Ausdünstungen der Seifenfabriken und Schlachthäuser.
    New York war anders als London, das spürte Fiona. Es war jung, noch ganz am Anfang. Eine neue Stadt, wo jede Straße und jedes Gebäude von Schnelligkeit und Modernität kündete. Sie erinnerte sich an Nicks Reaktion, als das Schiff angelegt hatte, und wie er, fasziniert vom Anblick der Stadt, die Passagiere der ersten Klasse aufgehalten hatte, als er auf der Gangway stehenblieb.
    »New York!« hatte er ausgerufen. »Schau dir das an, Fee! Die Stadt des Handels und der Industrie. Die Stadt der Zukunft. Sieh dir die Häuser an! Die kühne Architektur, die Wolkenkratzer. Es sind verwirklichte Kunstideale. Tempel des Ehrgeizes. Lobgesänge auf Macht und Fortschritt!«
    Jetzt mußte sie darüber lächeln. Das war ganz Nick. Über Kunstideale zu schwafeln, während sie und tausend andere von dem verdammten Schiff steigen wollten.
    Seamie saß auf der Sitzkante, drehte sich zu ihr um und sagte: »Werden sie uns mögen, Fee? Tante Mollie und Onkel Michael?«
    »Natürlich, Schatz«, antwortete sie und wünschte, sie wäre sich wirklich so sicher, wie sie sich anhörte. Eine leise Stimme in ihrem Innern erinnerte sie daran, daß die beiden keine Ahnung hatten, daß sie und Seamie bald auf ihrer Schwelle auftauchen würden. Was, wenn sie euch nicht mögen? fragte die Stimme.
    Sie gebot ihr zu schweigen. Natürlich würden sie sich freuen. Michael war der Bruder ihres Vaters. Sie waren Verwandte, und er würde sie entsprechend behandeln. Vielleicht wäre er am Anfang ein bißchen überrascht – wer wäre das nicht? Aber man würde sie willkommen heißen und große Stücke auf sie halten. Sie hatte einen marineblauen Rock und eine weiße Bluse angezogen, und Seamie trug die Tweedjacke und die kurze Hose, die sie in Southampton gekauft hatten, um einen guten Eindruck zu machen. Sie sagte sich, welches Glück sie hatten, eine Familie zu haben, zu der sie gehen konnten, im Gegensatz zu Nick, der keine hatte.
    Wie sie auf der Reise erfahren hatte, hatte sich Nick mit seinem Vater entzweit und war deshalb aus London fortgegangen. Seinem Vater gehörte eine Bank, und er erwartete, daß sein Sohn sie eines Tages übernehmen würde, aber Nick hatte andere Pläne. Er begeisterte sich für alles, was er als neue Kunst bezeichnete – die Arbeit einer Gruppe von Malern, die in Paris lebte. Dort hatte er einige Zeit als Kunsthändler gearbeitet, und jetzt wollte er in New York seine eigene Galerie aufmachen. Er würde ausschließlich diese neuen Maler vertreten. Impressionisten nannte er sie. Er hatte ihr das halbe Dutzend Leinwände gezeigt, die er bei sich hatte. Zuerst fand sie die Bilder sehr seltsam. Sie sahen nicht aus wie die Gemälde, die sie in Schaufenstern von Läden und Pubs gesehen hatte – Bilder von Kindern und Hunden, verliebten Paaren oder Jagdszenen. Aber je mehr er ihr über die gedanklichen Hintergründe dieser Bilder und über die Maler selbst erzählte, um so besser gefielen sie ihr.
    Nick hatte eines der Bilder – ein kleines Stilleben aus weißen Rosen, Äpfeln, Brot und Wein – auf den Nachttisch zwischen ihren Betten gestellt, damit er es immer ansehen konnte. Es war mit »H. Besson«

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