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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Stelle war eine nüchterne junge Frau getreten, die Trauer und Enttäuschung hart gemacht hatten. Eine Frau, die nicht mehr an Liebelei, Küsse und einen kleinen Laden in Whitechapel dachte. Eine Frau, die keine Träume mehr in sich trug, sondern nur noch Alpträume.
    Als sie an Deck stand, fielen ihr William Burtons Worte wieder ein. »… wenn wir Tillet doch bloß loswerden könnten, wie wir diesen Finnegan losgeworden sind.« Bowler Sheehans Antwort und sein dreckiges Lachen. »… das war gute Arbeit, was … hab die Schmiere selber verteilt … und zugesehen, wie der Herr Gewerkschaftsführer ausgerutscht und fünf Stockwerke tief gefallen ist …«
    Fiona wollte schreien, um diese Stimmen nicht mehr zu hören. Aber sie wußte, daß sie sie ihr Leben lang nicht vergessen würde. Die Wahrheit war ihr ins Herz eingebrannt. An allem, was ihr und ihren Lieben passiert war, war William Burton schuld. Es gäbe keine Gerechtigkeit, weder jetzt noch in Zukunft, denn sie könnte nie beweisen, was er getan hatte. Aber Rache würde es geben. In New York würde sie es irgendwie schaffen, etwas aus sich zu machen. Arme Leute wurden reich in Amerika. Waren dort die Straßen nicht mit Gold gepflastert? Sie würde sehen, wie die Leute zu Geld kamen, und sie würde herausfinden, wie auch sie zu welchem kam.
    »Es ist noch nicht vorbei, Burton«, flüsterte sie dem Ozean zu, dessen Wasser im Zwielicht dunkel schimmerte. »Es hat erst angefangen.«
    Am Horizont verschwand England aus ihrer Sicht. Ihr Heimatland. Der Boden, in dem ihre Familie beerdigt lag. Die Straßen, durch die sie mit Joe gegangen war. Alles fort. Jetzt sah sie nur noch Wasser. Der Ozean bedrückte sie. Sie konnte nicht zum anderen Ufer sehen wie bei der Themse. Sie fühlte sich unendlich einsam und hatte Angst vor dem, was kommen würde. Sie schloß die Augen und sehnte sich nach jemandem, auf den sie sich stützen könnte.
    »Bedrückt Sie etwas, mein Kind?« fragte eine Stimme neben ihr. Erschrocken wandte sie sich um. Ein freundlich aussehender Mann in einem schwarzen Talar, ein Priester, stand neben ihr. »Sie haben gebetet? Das ist gut. Es erleichtert die Seele. Dem Allmächtigen können Sie all Ihre Sorgen anvertrauen, und er wird Sie hören. Gottes Fürsorge ist immerdar.«
    Wirklich, dachte sie und unterdrückte ein bitteres Lachen. Bis jetzt hat er lausige Arbeit geleistet.
    »Kommen Sie, lassen Sie uns gemeinsam beten. Mit seiner Hilfe erleichtern Sie Ihre Bürde«, sagte der Priester und reichte ihr einen Rosenkranz.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke, Vater.«
    Der Priester sah sie verblüfft an. »Aber Sie glauben doch an die Kraft des Allmächtigen, die Ihnen in der Stunde der Not hilft? Sie glauben doch …«
    Woran glauben? fragte sie sich. Einst hatte sie von ganzem Herzen an die Kraft der Liebe geglaubt, an die Beständigkeit von Heim und Familie, an die Erfüllung ihrer Träume und daß ihre Gebete erhört werden würden.
    Jetzt glaubte sie nur an eines – an das Geld, das in ihr Mieder eingenäht war. Diese Pfundnoten hatten ihr Leben gerettet – nicht Joe, nicht Gott, nicht ihre armen toten Eltern, nicht die Gewerkschaft und auch nicht die Gebete, die Rosenkränze und die Kerzen.
    Fiona dachte an ihren Vater und an die Unterhaltung, die sie einst vor dem Kamin geführt hatten. Seitdem schienen Jahre vergangen zu sein. Damals hatten seine Worte sie verwirrt, und in den Monaten nach seinem Tod hatte sie oft darüber nachgedacht, ohne sie ganz zu verstehen. Doch jetzt war ihr die Bedeutung vollkommen klar.
    »Woran ich glaube, Vater«, sagte sie und reichte ihm den Rosenkranz zurück, »ist, daß drei Pfund Fleisch einen sehr guten Eintopf ergeben.«

Zweiter Teil

   22   
    New York, März 1889
    J a, geht’s jetzt endlich weiter? Jetzt fahr schon, du lahmer Esel, du verdammter!« rief der Droschkenkutscher. Vor ihm zuckelte gemächlich ein mit Ziegeln beladener Wagen dahin. Scharf zog er die Zügel an und zwang das Pferd, abrupt nach links auszuscheren. Die Räder der Kutsche streiften den Gehsteig, als sie den Wagen überholte, und Fiona und Seamie wurden unsanft auf ihrem Sitz herumgeschleudert.
    Sie waren erst zwei Straßen von der Anlegestelle entfernt, aber was sie inzwischen von der Stadt und ihren Einwohnern gesehen hatten, bestätigte die Aussagen, die sie auf der Britannic gehört hatten – New York war entsetzlich laut, und alles ging furchtbar schnell. Die Menschen um sie herum bewegten sich genauso hastig und

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