Die Teerose
signiert, und Fiona fühlte sich seltsam davon angezogen. Es erinnerte sie an Joe. Wie sehr sie ihn doch vermißte, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Sie fragte sich, wie ein einfaches kleines Bild solche Gefühle auslösen konnte. Nick behauptete, weil der Maler es mit seinem Herzen gemalt habe.
Obwohl sie erst eine halbe Stunde getrennt waren, vermißte Fiona Nick bereits, und zwar ganz entsetzlich. Heute war Donnerstag. Sie hatten abgemacht, sich am folgenden Donnerstag in seinem Hotel zu treffen. Das war schon in einer Woche, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie vermißte seine Begeisterung und seinen Optimimus, seinen unbezähmbaren Hang zum Abenteuer, seine komische, unpraktische Art. Sie erinnerte sich an ihr erstes gemeinsames Abendessen. Als sie den Speisesaal betraten, wurde sie von Panik gepackt, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie sich verhalten und was sie sagen sollte. Wie würde sie als seine Frau durchgehen, als eine Frau seines Standes?
»Es ist ganz einfach«, erklärte er ihr. »Sei immer grob zum Personal. Setz gegenüber allem Neuem eine hochmütige Miene auf. Und hör nie auf, über deine Hunde zu reden.«
Sie hätte sich ein paar praktische Ratschläge gewünscht – etwa, welches Glas für Wasser und welches für Wein war. Das erste Essen war ein Desaster. Die Fülle an Besteck, Kristall und Porzellan hatte sie verwirrt. Nach einiger Zeit bekam sie heraus, welches der Suppenlöffel war, doch Seamie trank seine Consommé direkt aus der Tasse. Er setzte sie ab, verzog das Gesicht und sagte: »Dieser Tee ist scheußlich!« Sie ließ ihn die Suppentasse abstellen, den Löffel nehmen und Stücke von dem Brot abbrechen und mit Butter bestreichen – genau wie Nick –, anstatt das ganze Brötchen zu beschmieren. Viel mehr brachte sie ihm nicht bei. Er war störrisch und widerspenstig und verstand nicht, warum er seine Schwester plötzlich Mutter und einen Fremden Vater nennen sollte. Er mochte keinen Hummer und weigerte sich, seine Wachtel zu essen, weil der Kopf noch dran war.
Um Konversation zu treiben, hatte Nick sie nach ihrer Familie gefragt. Während sie versuchte, eine Antwort auf die schwierige Frage zu formulieren, sprang Seamie in die Bresche. »Unsere Ma ist tot«, sagte er schlicht. »Sie wurde von einem Mann erstochen, der Jack heißt. Unser Pa ist auch tot. Er ist in den Docks runtergefallen. Sie haben sein Bein abgeschnitten. Charlie und Eileen sind auch tot. Böse Männer haben uns gejagt. Sie wollten unser Geld. Wir waren hinter einer Matratze. Da waren Ratten drin. Ich hab Angst gehabt. Ich mag keine Ratten.«
Als er fertig war, stand Nick der Mund offen. Nach ein paar Sekunden peinlichen Schweigens fragte er, ob das wahr sei. Sie bejahte. Auf ihren Teller starrend, erklärte sie, was ihrer Familie passiert war, die Probleme mit Burton ließ sie jedoch weg. Seamie wußte davon nichts. Niemand wußte davon, und so sollte es auch bleiben. Als sie fertig war, hob sie den Blick und erwartete, Abscheu aus Nicks feinen, aristokratischen Zügen zu lesen. Statt dessen sah sie Tränen in seinen Augen.
Während der fast drei Wochen, die sie eine Kabine geteilt, gemeinsam die Mahlzeiten eingenommen und ihre Zeit verbracht hatten, war sie diesem reizenden, unglaublich gutherzigen Mann sehr nahe gekommen. Sie wußte immer noch nicht ganz, wie das möglich war. Vielleicht, weil sie beide allein auf der Welt waren. Sie hatte ihre Familie verloren und war gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und ihm ging es – auf seine Weise – genauso. Nie hätte sie erwartet, daß sie gute Freunde würden, weil ihr jeweiliger Hintergrund so verschieden, der Klassenunterschied so groß war. Aber das war, bevor sie, zusammengedrängt in ihrer Kabine, stürmische Nächte verbracht hatten, Tee tranken, während das Schiff schlingerte und stampfte, und sich ihre Hoffnungen und Träume erzählt hatten. Das war, bevor er sie und ihren Bruder immer und immer wieder den Satz üben ließ: »Hallo, Harold, ich höre, Havanna ist höllisch heiß«, bis sie ihren Cockney-Akzent ablegten. Bevor sie ihm Ingwertee brachte und ihm aus seinen Büchern von Byron und den Brownings vorlas, während er an seinen seltsamen Erschöpfungszuständen litt. Bevor er sich auf ihre Bettkante setzte und sie beruhigte, nachdem sie schreiend aus einem Alptraum erwacht war. Bevor sie das Foto entdeckt hatte, das sie sicherlich nicht sehen sollte.
Eines Morgens, nachdem Nick zu seinem üblichen Spaziergang über Deck
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