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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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die Unterlippe und war schon drauf und dran, in Panik zu verfallen, als auf dem Gehsteig ein Junge vorbeikam.
    »Entschuldige …«, sagte sie. »Kennst du Michael Finnegan? Weißt du, wo er ist?«
    Die Hände in den Taschen vergraben, antwortete er: »In Whelan’s Bierstube, höchstwahrscheinlich.«
    »Wie bitte?«
    »Whelans. Eine Straße nach Norden.« Er ging weiter.
    »Warte bitte! Wohnt er nicht mehr hier?«
    »Hier schläft er, Miss, aber wohnen tut er bei Whelan’s.»
    Er setzte ein spöttisches Lächeln auf und machte eine Geste, als würde er eine Flasche leeren. Fionas verständnisloser Gesichtsausdruck sagte ihm, daß sie nicht begriffen hatte. Der Junge verdrehte die Augen. »Muß ich’s Ihnen buchstabieren? Er säuft. Verbringt die Tage in der Kneipe und torkelt dann hierher zurück. Mein Vater macht das gleiche, aber nur samstags. Mr. Finnegan ist ständig dort.«
    »Das kann doch nicht sein«, sagte Fiona. Ihr Onkel war kein Trinker, sondern ein hart arbeitender Ladenbesitzer. Sie besaß Fotos, Briefe, die das bewiesen. »Weißt du, warum der Laden geschlossen ist?«
    Ein durchdringender Pfiff ertönte vom Ende der Straße. »Komme!« rief der Junge. Ungeduldig, zu seinen Freunden zu kommen, wandte er sich zu Fiona zurück. »Hat die Rechnungen nicht bezahlt. Ist verrückt geworden, als seine Frau gestorben ist.«
    »Gestorben!« wiederholte sie entsetzt. »Molly Finnegan ist tot?«
    »Ja, an der Cholera. Letzten Herbst. Hat viele Leute erwischt. Ich muß los«, fügte er hinzu und machte sich davon. »Whelan’s Bierstube. Auf der Twentieth Street«, rief er über die Schulter.
    Er ließ Fiona auf dem Gehsteig zurück, die sich die Hände an die Wangen preßte und versuchte, dieses neuerliche Unglück zu begreifen. Das kann doch nicht wahr sein, sagte sie sich. Das gibt’s doch nicht. Der Junge mußte sich getäuscht haben. Sie mußte Michael finden. Er würde ihr alles erklären, und dann würden sie über das alberne Mißverständnis lachen. »Komm mit, Seamie«, sagte sie und nahm ihr Gepäck.
    »Wohin gehen wir jetzt, Fee?« fragte er quengelnd. »Ich bin müde. Ich will was zu trinken.«
    Fiona bemühte sich, zuversichtlich und selbstsicher zu klingen, damit ihr Bruder die Sorge in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Wir suchen Onkel Michael, Seamie. Er ist gerade nicht zu Hause. Wir müssen sehen, wo er ist. Er wird sich sicher sehr freuen, wenn er uns sieht. Dann trinken und essen wir was, in Ordnung?«
    »Ja, gut«, antwortete er und nahm ihre Hand.
     
    Whelan’s Bierstube wirkte nicht wie ein Lokal, das anständige, arbeitende Männer aufsuchten, um ein wohlverdientes Glas Bier zu trinken. Es war schäbig und heruntergekommen, die Art von Kaschemme, in die Obdachlose gehen, wenn sie vier Cents für einen Schluck Gin oder Whiskey zusammengebettelt haben. Fiona holte tief Luft, dann stieß sie die Tür auf und trat ein. Zumindest war es still im Innern. Drei Männer spielten Billard, zwei saßen zusammengesunken an der Bar.
    »Damen trinken im Hinterzimmer«, sagte der Wirt und wischte mit einem schmutzigen Lappen ein Glas ab.
    »Ich will keinen Drink«, antwortete sie. »Ich suche nach meinem Onkel. Michael Finnegan.«
    »He, Michael!« brüllte er. »Da ist jemand für dich!«
    »Sag ihnen, sie sollen abhauen«, antwortete eine Gestalt am Ende der Bar, ohne sich umzudrehen.
    »Bleib hier«, befahl Fiona Seamie und ließ ihn an der Tür warten. Sie kannte sich mit aggressiven Trunkenbolden aus und wollte ihren Bruder nehmen und schnell verschwinden, falls es schwierig wurde. Langsam ging sie auf den Mann zu. Er trug eine abgeschabte Tweedjacke mit Löchern am Ellbogen. Sein dunkles Haar war lang und ungepflegt.
    »Entschuldigen Sie, sind Sie Michael Finnegan?«
    Der Mann drehte sich um. Der Atem stockte ihr. Er war das absolute Ebenbild ihres Vaters. Das gleiche Kinn, die gleichen Wangenknochen, die gleichen verblüffend blauen Augen. Er war ein paar Jahre jünger als ihr Pa, nicht ganz so breitschultrig und trug keinen Bart. Sein Gesicht war weicher, nicht wettergegerbt von den Jahren in den Docks, aber es war ihr so vertraut wie ihr eigenes.
    »Ich hab doch gesagt, daß …«, brummte er und entschuldigte sich, als er sah, daß eine Frau vor ihm stand. »Tut mir leid, Mädchen, hab gedacht, du seist einer der Geier, die Geld von mir wollen. Ich wollt nicht …« Er brach ab. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er sie an. »Kenne ich dich?«
    »Ich bin deine Nichte Fiona.«
    Es schwieg

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