Die Teerose
Kleider. »In der ersten Klasse ist es elegant, nicht wahr? Und wir haben keine schönen Kleider. Deswegen.«
»Wirklich?« fragte er ungläubig. Er hatte nie jemanden kennengelernt, der aufrichtig behaupten konnte, er besäße nur das, was er auf dem Leib trug. Mit gerunzelter Stirn sah er sie von oben bis unten an. Sie hatte recht. Das wäre ein Problem. Sie müßten neue Kleider bekommen. »Wissen Sie, ich bin mir sicher, wir könnten zu einem Geschäft gehen und rechtzeitig wieder zurück sein«, antwortete er.
»Glauben Sie?«
»Wenn wir uns beeilen. Die erste Klasse hat noch eine Stunde, um an Bord zu gehen, und dann bekommt die zweite Klasse eine Stunde und dann das Zwischendeck. Wir könnten es ja versuchen.«
Als sie sich anstellten, um ihr Gepäck aufzugeben, fragte Nicholas: »Haben Sie denn nur diese Jacke? Wie wollen Sie sich warm halten? Sie brauchen einen richtigen Mantel, Seamie ebenfalls, und gute warme Handschuhe und Schals. Wir haben erst März, wissen Sie. An Bord wird ein frischer Wind wehen.« Während sich die Träger mit ihrem Gepäck abmühten, begann er mit Hilfe seiner Finger aufzuzählen: »Sie sollten zwei oder drei Röcke haben und ein paar Hemdblusen. Einen Mantel, ein oder zwei Abendkleider und ein paar Hüte, einverstanden?«
Er sah Fiona an. Sie nickte. »Wie Sie meinen«, antwortete sie.
Ihr vertrauensvoller Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Hoffnung und Unsicherheit – rührte ihn. Er bot ihr seinen Arm an. »Also gut. Kommen Sie, Mrs. Soames. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Fiona stand achtern auf dem Erster-Klasse-Deck der Britannic und umklammerte die Reeling. Es war bitter kalt, aber sie spürte den Wind kaum, der an ihren Kleidern zerrte und ihr Haar zerzauste. Ungläubig sah sie auf ihre Hände, die in Lederhandschuhen steckten, und auf ihren neuen Rock und ihre Stiefel.
Im Lauf der zwei Stunden in dem Kaufhaus hatte Nicholas sie zumindest äußerlich von einer Londoner Dockratte in eine richtige junge Dame verwandelt. Sie besaß jetzt einen neuen Wollmantel, gute Lederstiefel, drei Wollröcke, vier Blusen, zwei Hüte und einen Ledergürtel. Ganz zu schweigen von neuen Nachthemden, Unterwäsche, Strümpfen, Schildpattkämmen und einer zweiten großen Stofftasche, um alles aufzunehmen.
Er hatte alles ausgesucht, Kleider zusammengestellt, entschieden, welcher Hut zu welchem Mantel paßte. Fiona hatte sich mit allem abgefunden, schließlich wußte er, was man auf einer Reise trug, sie nicht. Als er fertig war, suchte er eine Ausstattung aus, die sie für den Gang an Bord anziehen sollte, und schlug vor, ihre alten Sachen einpacken zu lassen. Sie schlüpfte in die Umkleidekabine und zog ihren neuen kaffeebraunen Rock mit dem weichen Ledergürtel, die beige-cremefarben gestreifte Bluse und die neuen tabakfarbenen Stiefel an. Ein marineblauer, bis zum Boden reichender Mantel und ein breitrandiger Hut vervollständigten ihre Garderobe. Als sie in den Spiegel sah, blickte eine Fremde auf sie zurück. Eine große, schlanke, elegant gekleidete Frau. Sie berührte das Spiegelglas, und ihre Finger trafen sich mit denen der Fremden. Bin das wirklich ich? fragte sie sich.
Vor zwei Tagen hatte sie noch nicht genug Geld gehabt, um sich ein Zimmer in Whitechapel zu mieten. Jetzt reiste sie erster Klasse nach New York, teilte sich eine Kabine mit einem weichen Bett und einer modernen Toilette, einen Raum, der luxuriöser war als alles, was sie sich je erträumt hatte. Vor einer Stunde hatte sie in ihrer Kabine Tee und Plätzchen eingenommen. Um acht gab es Abendessen, anschließend ein Konzert. Noch gestern konnte sie für Seamies Abendessen nur einen Hering beschaffen, heute abend würde sich ihr kleiner Bruder, der gerade in seinem Kinderbett ein Nickerchen machte, in eine neue Flanelljacke mit passender Hose kleiden und anschließend Delikatessen schnabulieren. Alles kam ihr vollkommen unwirklich vor, als bewege sie sich durch einen Traum.
Alles hatte sich verändert. Ihr altes Leben hatte sich verflüchtigt, war buchstäblich über Nacht weggefegt worden, und sie stand auf der Schwelle zu einem neuen. Sie sah anders aus und fühlte sich anders. Genauso wie Nicholas sie äußerlich verändert hatte, hatten Schmerz, Verlust und Bitterkeit ihr Inneres verwandelt und Veränderungen herbeigeführt, die sie zwar spürte, aber kaum fassen konnte.
Das ausgelassene Mädchen, das am Fluß saß und von der Zukunft mit ihrem Liebsten träumte, war verschwunden. An seine
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