Die Teerose
aufgebrochen war, sah Fiona, daß er seine Taschenuhr auf dem Nachttisch zurückgelassen hatte. Sie war aus Gold, schön gearbeitet und zweifellos wertvoll. Sie wollte sie wegstecken, um sie in Sicherheit zu bringen, als ein kleines Foto herausfiel. Sie hob es auf und sah, daß darauf ein hübscher, dunkelhaariger Mann abgebildet war. Sein Gesicht drückte große Zuneigung für die Person aus, die das Foto aufgenommen hatte. Sie begriff sofort, daß der Fotograf Nick und daß dieser Mann sein Geliebter war.
Wer sonst? Schließlich hob man die Fotos von Freunden nicht in Uhrengehäusen auf, und gleichzeitig erklärte es auch, warum Nick nie von seiner Liebsten sprach, obwohl sie ihm doch von Joe erzählt hatte. Und daß er nie Interesse an ihr oder einer anderen Frau auf dem Schiff zeigte. Davor hatte sie sich gefürchtet, als sie in die Kabine zogen. Sie war so begierig gewesen, auf das Schiff zu kommen, daß sie mit keinem Gedanken daran gedacht hatte, er könnte von anderen Motiven geleitet werden, als ihnen zu helfen. Als sie dann in jener ersten Nacht unter ihrer Decke lag und Angst davor hatte, in Gegenwart des fremden Mannes einzuschlafen, der nur ein kurzes Stück von ihr entfernt lag, hatte sie sich gefragt, was sie tun würde, wenn er sie belästigte. Beim Kapitän konnte sie sich kaum beschweren – schließlich galten sie als Ehepaar. Aber er hatte ihr nie Anlaß zu Sorge gegeben. Sie hatte das Foto des hübschen Mannes noch eine Weile angestarrt, sich gefragt, wie er wohl war, ob er je nach Amerika käme und was die beiden Männer überhaupt zusammen machten. Sie hatte nie einen Mann kennengelernt, der andere Männer liebte. Dann tadelte sie ihre eigene Neugier und legte die Uhr weg.
Die Droschke hielt mit einem Ruck an, Fiona wurde gegen die Tür geworfen und vergaß alles über Nick und die Reise. Erneut hörten sie Flüche und Schreie, als der Kutscher sich über die Kreuzung von Eighth Avenue und Fourteenth Street kämpfte und auf seinen schlecht gefederten Rädern über Furchen und Schlaglöcher rumpelte. Fiona sah, daß an die Stelle der Fabriken Wohnhäuser und Geschäfte getreten waren. Die Droschke nahm wieder Fahrt auf und hielt dann vier Straßen weiter vor einem breiten, dreistöckigen Backsteinhaus auf der östlichen Seite der Avenue zwischen Eighteenth und Nineteenth Street an.
Mit vor Aufregung zitternden Händen stieg Fiona aus und hob dann Seamie und ihr Gepäck herunter. Sie bezahlte, die Kutsche rollte davon und wirbelte Straßenstaub auf. In der einen Hand hielt sie ihre Reisetaschen, an der anderen Seamie, und sah zu Nummer hundertvierundsechzig hinauf.
Es sah nicht aus, wie sie es erwartet hatte.
Das Schild über dem Laden besagte: M. FINNEGAN – LEBENSMITTEL und zeigte die Öffnungszeiten an, aber der Laden war geschlossen. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß versperrt, das große Schaufenster mit Staub bedeckt. Ein paar Waren im Innern waren mit toten Fliegen und Mäusedreck bedeckt, die Verpackungen von der Sonne ausgebleicht und zerknittert.
Rechts unten am Fenster befand sich ein Schild, auf dem stand:
Von der First-Merchants-Bank zur öffentlichen
Versteigerung ausgeschrieben:
Eighth Avenue: 25 Fuß breites dreistöckiges Gebäude
auf 1oo Fuß breitem Grundstück
Ladenlokal mit Wohnung
Datum der Auktion: Samstag, 14. April 1889
Für nähere Informationen wenden Sie sich bitte an
Mr. Joseph Brennan, Grundstücksmakler
21 Water Street, New York
Verständnislos starrte Fiona auf das Schild. Sie stellte die Taschen ab und spähte durch das Fenster. Sie sah eine zusammengeknüllte weiße Schürze auf dem Ladentisch, eine große Uhr an der Wand dahinter, die die falsche Zeit anzeigte, eine Registrierkasse, Gaslampen und Regale, in denen noch Waren standen. Was war passiert? fragte sie sich besorgt. Wo sind sie?
»Komm Fee. Wir gehen zu Onkel Michael.«
»Gleich, Seamie.«
Sie trat einen Schritt zurück und sah zum oberen Stockwerk hinauf. Es wirkte unbewohnt. Sie versuchte, die Tür zum oberen Stockwerk zu öffnen, sie war verschlossen. Dann bat sie ihren Bruder zu warten und klopfte bei der Nummer hundertsechsundsechzig an, aber auch dieses Haus war leer. Aufgrund der Kleiderpuppen, der Stoffballen und der herumliegenden Garnrollen schloß sie, daß es sich um eine Schneiderei handeln mußte. Sie versuchte es bei der Hundertzweiundsechzig, wo sie über einen Stapel leerer Eimer und alter Besen klettern mußte. Wieder keine Antwort. Sie biß sich auf
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