Die Teerose
herein.
»Fee?« rief Seamie aus der Diele.
»Bleib stehen«, antwortete sie und ging von der Küche ins Wohnzimmer. Auch dort öffnete sie Fenster, und das einströmende Licht beleuchtete ein ähnliches Chaos. Überall lagen leere Whiskeyflaschen und schmutzige Kleider verstreut. Auf dem Boden stapelte sich Post. Fiona hob einen versiegelten Umschlag auf. Er stammte von der First-Merchants-Bank und trug die Aufschrift DRINGEND . Dann hob sie einen zusammengefalteten Zettel auf, der von einem Metzger stammte und um sofortige Bezahlung ausstehender Rechnungen bat. Ein ungeöffneter Umschlag mit vielen Briefmarken darauf stach ihr ins Auge. Es war der Brief, den ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters abgeschickt hatte.
Es war still im Wohnzimmer. Nur das monotone Ticken der Uhr auf dem Kaminsims war zu hören. Aber Fiona nahm es nicht wahr, weil ihr noch immer der Schock des Empfangs in den Knochen saß. Tausend Probleme stürzten auf sie ein. Ihre Tante war tot, ihr Onkel ein gebrochener Trinker. Ihre kleine Cousine hielt sich irgendwo in dieser Stadt auf, aber wo? Der Laden war geschlossen. Die Stelle, auf die sie gehofft hatte, existierte nicht. Das Haus würde versteigert werden. Wohin würden sie dann gehen? Was würden sie tun? Wie würde sie eine Bleibe finden? Eine Arbeit?
Sie ging durch die Wohnung, überall herrschte das gleiche Chaos. Das Badezimmer war abscheulich. In Michaels Schlafzimmer lagen weitere leere Flasche verstreut. Zerknitterte Laken hingen vom Bett auf den Boden. An einem Kissen lehnte eine gerahmte Fotografie. Fiona nahm sie in die Hand. Eine hübsche Frau mit fröhlichen Augen lächelte sie an.
»Feeeee!« rief Seamie verzweifelt. »Komm! Ich hab Angst!«
»Ich komm schon, Seamie!« rief sie zurück und lief zu ihm hin.
»Mir gefällt’s hier nicht. Ich möchte heim«, quengelte er.
Fiona sah, wie verwirrt und erschöpft er war. Sie durfte ihm nicht zeigen, wie niedergeschlagen sie sich selbst fühlte, sie mußte stark sein. »Sei still, Liebling. Es wird alles gut, du wirst schon sehen. Wir besorgen uns was zu essen, und ich räum ein bißchen auf, dann sieht alles viel besser aus.«
»Ist das Tante Molly?« fragte er und deutete auf das Foto, das sie immer noch in der Hand hielt.
»Ja, Schatz.«
»Sie ist tot, nicht wahr, Fee? Das hat Onkel Michael doch gesagt.«
»Ja, das stimmt.« Fiona wollte das Thema wechseln. »Komm, Seamie, wir suchen einen Laden und kaufen uns Brot und Schinken für Sandwiches. Du magst doch ein Schinkensandwich, oder?« Sie griff nach seiner Hand, aber er schlug sie weg.
»Tot! Tot! Tot!« rief er zornig aus. »Genau wie Ma und Pa und Charlie und Eileen! Alle sind tot! Ich mag tot nicht! Vater ist auch tot, stimmt’s? Stimmt das, Fee?«
»Nein, Seamie«, antwortete Fiona sanft und ging vor ihm in die Hocke. »Nick ist nicht tot. Er ist in einem Hotel. Das weißt du doch. In einer Woche gehen wir ihn besuchen.«
»Nein, das tun wir nicht. Er ist tot«, beharrte Seamie und trat mit dem Fuß gegen eine der Reisetaschen.
»Ist er nicht. Jetzt hör auf damit.«
»Er ist tot. Und du wirst auch sterben! Und dann bin ich ganz allein!«
Seamies Augen füllten sich mit Tränen, und sein Gesicht verzog sich. Der Anblick riß Fiona das Herz entzwei. Der arme kleine Kerl, dachte sie. Er hat seine ganze Familie verloren, sein Heim, seine Freunde, alles. Sie zog ihn an sich. »Nick ist nicht tot, Liebling. Und ich werde auch nicht sterben. Noch lange, lange nicht. Ich werde bei dir bleiben, für dich sorgen und auf dich achten, in Ordnung?«
Schniefend lehnte er sich an ihre Schulter. »Versprochen, Fee?«
»Versprochen.« Sie ließ ihn los und bekreuzigte sich.
»Auf Ehr und Seligkeit …«
Schließlich wischte er sich mit dem Handrücken die Augen ab.
Fiona seufzte. Sie zog ein Taschentuch heraus und putzte ihm die Nase. Wenn doch ihre Ma nur da wäre. Sie wüßte, wie sie seine Ängste vertreiben könnte. Sie wußte immer, was sie sagen mußte, wenn Fiona Angst hatte. Fiona wußte nicht, wie man sich als Mutter verhielt. Sie wußte nicht einmal, wo sie Abendessen kaufen und wo sie in diesem Durcheinander schlafen sollten. Sie wußte nicht, was der nächste Tag bringen würde, wo sie nach einem Zimmer suchen und womit sie Geld verdienen sollte. Und vor allem wußte sie nicht, warum sie in diese vermaledeite Stadt gekommen war. Sie wünschte, sie hätte es darauf ankommen lassen und wäre in England geblieben. Sie hätten nach Leeds, nach Liverpool oder
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