Die Teerose
war ein herrlicher Märzmorgen angebrochen. Nick machte eine gute Figur in seinem grauen dreiteiligen Anzug, wozu er Krawatte, Schuhe und Mantel in Braun statt in Schwarz trug, was eher kühn war. In der Hoffnung, eine Droschke zu finden, ging er, die Hände in den Taschen vergraben, die Park Avenue hinunter. Sein Gang war federnd und seltsam anmutig. Die frische Luft brachte Farbe in sein blasses Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den türkisblauen Augen. Er zog viele bewundernde Blikke auf sich, die er nicht bemerkte, weil er vollkommen in Gedanken versunken war.
Schließlich hielt er eine Droschke an und wies den Kutscher an, ihn zum Gramercy Park zu bringen. Auf dem Weg dorthin fuhr die Kutsche an einer Kunstgalerie in der Fourtieth Street vorbei. Mit der weißen, mit Gold eingefaßten Markise, den glänzenden Messingtüren und den Bronzeurnen daneben sah sie äußerst vornehm aus. Als er darauf starrte, trat Entschlossenheit in seinen Gesichtsausdruck. Er würde seine Galerie bekommen, und auch sie würde vornehm sein. Er würde seiner Krankheit nicht erlauben, ihn schachmatt zu setzen. Er war aus härterem Holz geschnitzt, und das würde er beweisen. Eckhardt. Sich selbst. Aber vor allem seinem Vater, der ihn als Abscheulichkeit bezeichnet und ihm geraten hatte, bald zu sterben, um der Familie weitere Schande zu ersparen. Gegen seinen Willen erstand das Bild dieses Mannes vor seinem geistigen Auge. Würdevoll, steif, ernst. Unbeschreiblich reich. Mächtig. Monströs.
Er erschauderte und versuchte, das Bild zu verscheuchen, aber er sah seinen Vater wieder vor sich, so wie er in der Nacht ausgesehen hatte, als er von Nicks Krankheit erfuhr – und ihn mit wutverzerrtem Gesicht gegen die Wand stieß. Danach lag er, nach Luft schnappend, am Boden und sah auf die schwarzen Schuhspitzen seines Vaters, der vor ihm auf und ab ging. Die Schuhe stammten von Lobb’s und waren auf Hochglanz poliert. Die Hose, die von Poole’s stammte, hatte scharfe Bügelfalten. Aussehen bedeutete alles für diesen Mann.
Nick schob die Erinnerung beiseite und sah auf seine Uhr. Um elf sollte er sich mit einem Makler treffen, um Räume für eine Galerie zu besichtigen. Aus Versehen öffnete er die Rückseite der Uhr. Ein kleines, sauber zugeschnittenes Foto fiel ihm in den Schoß. Sein Herz verkrampfte sich, als er den lächelnden jungen Mann ansah. Auf der Wand neben ihm standen die Worte »Chat Noir«. Wie gut erinnerte er sich an den Ort. Fast konnte er den Absinth schmecken und die nächtliche Luft riechen – die Mischung aus Zigarettenrauch, Parfüm, Knoblauch und Ölfarbe. Er konnte seine Freunde sehen – ihre Gesichter, ihre schäbigen Kleider und schmutzigen Hände. Er drückte die Hand auf sein Herz und spürte sein Klopfen. Schädigungen? Wenn der grauenvolle Verlust, den er letzten Herbst erlitten hatte, es nicht getötet hatte, was konnten dann ein paar kaputte Stellen ausmachen? Noch immer starrte er das Foto an, und plötzlich war er nicht mehr in New York, sondern wieder in Paris. Henri saß ihm in seiner geliebten weinroten Jacke in einem Café gegenüber. Es war nicht März, sondern Mai, die Nacht ihres Kennenlernens. Er war wieder dort, auf dem Montmartre …
»… Zweihundertfünfzig Francs für dieses … dieses Plakat?« rief Paul Gauguin mit lallender Stimme. »Es sieht aus, als wär’s von einem Laternenpfahl, von einer Reklametafel!«
»Lieber ein Plakat als eine Kinderzeichnung … wie deine Bretons!« grölte Henri Toulouse-Lautrec zurück, kreischendes Gelächter vom Rest der Gesellschaft erntend.
Kurz zuvor hatte Nick ein Gemälde von Lautrec erstanden, ein farbenprächtiges Porträt von Louise Weber, einer Varietésängerin, bekannt als La Goulue. Sein Arbeitgeber, der berühmte Kunsthändler Paul Durand-Ruel, zögerte, Lautrec auszustellen, aber Nick bedrängte ihn, und er hatte sich einverstanden erklärt, ein paar Bilder zu zeigen. Nick war nur mit einer kleinen Kommission an dem Verkauf beteiligt, aber er hatte etwas anderes davongetragen – einen Sieg für die neue Kunst.
Es war nicht einfach, die neue Generation zu verkaufen. Einen Manet, Renoir oder eine Morisot an den Mann zu bringen – diejenigen, mit denen alles angefangen hatte – war schwer genug. Aber Nick glaubte daran. 1874, als diese Künstler erstmals ausgestellt wurden, konnte nichts verkauft werden. Ein Kritiker, der sich auf den Titel von Monets Bild Impression, Sonnenaufgang bezog, hatte sie alle als Impressionisten,
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