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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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reine Schmierer abgetan. Sie rebellier-ten gegen die von der Gesellschaft anerkannte Kunst – Historien- und Genremalerei – und wollten das Reale, nicht das Ideale darstellen. Die Näherin, die sich über ihre Arbeit beugte, war ihrer Meinung nach genauso darstellungswürdig wie ein Kaiser oder ein Gott. Ihre Technik war locker und ungekünstelt und zielte mehr auf die Erzeugung von Emotionen ab. Die Öffentlichkeit hatte sie abgelehnt, aber Nick bewunderte sie. Der Realismus, mit dem sie das Leben porträtierten, entsprach seinem Bedürfnis nach ein wenig Ehrlichkeit in seinem eigenen Leben.
    In Cambridge hatte er Wirtschaft studiert, weil sein Vater ihn dazu zwang – damit er die Familienbank gut gerüstet übernehmen konnte –, aber seine Freizeit hatte er damit verbracht, sich der Kunst zu widmen. Das erste Mal, als er in der National Galerie Arbeiten der Impressionisten gesehen hatte, war er neunzehn Jahre alt, arbeitete den Sommer über in der väterlichen Albion-Bank und haßte jede Sekunde davon. Nachdem er das Museum verlassen hatte, hielt er eine Droschke an und sagte dem Kutscher, er solle ihn eine Stunde in der Stadt herumfahren, damit er ungestört weinen konnte. Als er an diesem Abend nach Hause kam, wußte er, daß er weder bei Albion bleiben noch nach Cambridge zurückkehren konnte. Er würde seinem Vater trotzen und nach Paris gehen. Er haßte sein Leben – den lähmenden Alltag, die Familienessen, wo ihn sein Vater mit Finanzfragen löcherte und ihn dann ausschalt, weil er keine Antworten geben konnte, die unerträglichen Partys, wo ihm die Freundinnen seiner Mutter ihre Töchter aufdrängten, weil er als einziger Sohn als gute Partie galt. Sein ganzes Leben war ein Schwindel. Wer er wirklich war, wurde nicht akzeptiert. Doch in den Bildern von Monet, Pissarro, Degas erkannte er die Welt, wie sie tatsächlich war , nicht wie manche sie erscheinen lassen wollten, und diese Sichtweise hatte er sich bereitwillig zu eigen gemacht.
    Nick trank noch einen Schluck Wein, während Gauguin und Lautrec einander hänselten. Er hatte riesigen Spaß. Die Stimmung war bestens, geradezu überschwenglich. Inmitten eines großen Gejohles traf La Goulue ein. Nick sah sich um und entdeckte Paul Signac und Georges Seurat, die in eine heftige Diskussion verstrickt waren. Émile Bernard nickte einem gutaussehenden jungen Mann mit langem braunem Haar zu, ein Maler, den Nick nicht kannte, in den jedoch die Bedienung verliebt war. Einige Kollegen aus der Galerie waren gekommen. Es war ein wundervolles Fest, eine wundervolle Nacht – und dann schlug das Unheil zu.
    Nick hatte sich mit gedünsteten Muscheln vollgestopft und tunkte die Brühe mit dicken Brotrinden auf. Gerade hatte er an Gauguin vorbei nach dem Rest des Brotlaibs gegriffen, als von irgendwoher ein großer, verfaulter Kohlkopf geflogen kam und ihn am Kopf traf. Schockiert und sprachlos saß er da und wischte sich die Kohlreste aus dem Gesicht. Alles schrie auf, und Gäste der Party wurden losgeschickt, um den Missetäter zu stellen. Der Mann wurde gefunden und zum Ort des Verbrechens zurückgeführt. Es stellte sich heraus, daß es sich um einen Postbeamten handele, den Gauguins Gemälde erbost hatten. Der Unhold weigerte sich nicht nur, sich zu entschuldigen, er beschimpfte Nick sogar noch, weil er ihn mit seinem dicken Schädel daran gehindert habe, sein Ziel zu treffen.
    Der Gestank war unerträglich. Nick stand auf und erklärte, er müsse nach Hause, um sich umzuziehen, als einer der Gäste – der junge Mann, in den die Bedienung verliebt war – anbot, ihn zu seiner Wohnung zu bringen, wo er sich waschen und ein frisches Hemd ausleihen könne.
    »Mein Name ist Henri … Henri Besson«, sagte er. »Ich wohne gleich in der Nähe, nur eine Straße entfernt.«
    »Also, dann gehen wir«, sagte Nick.
    Sie liefen die fünf Treppen zu Henris winzigem Zimmer hinauf, und Nick zog sich bereits auf dem Weg sein Hemd aus. Oben angekommen, beugte er sich über ein winziges, mit Farbe bekleckstes Becken und goß sich einen Krug Wasser über den Kopf. Henri gab ihm Seife und Handtuch und, nachdem er sich umgezogen hatte, ein Glas Rotwein. Nick war in solcher Eile gewesen, daß er sich in Henris Zimmer gar nicht umgesehen hatte. Als er es nachholte, nachdem er wieder gesäubert war, hingen zu seinem Erstaunen überall die leuchtendsten, farbdurchglühtesten Bilder, die er je gesehen hatte. Ein junges tanzendes Mädchen, dessen elfenbeinzarte Wangen auf subtile

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