Die Teerose
nicht noch ein Drink, dachte Fiona. Er kann jetzt schon kaum mehr sprechen.
»Wo wohnt Mary?« fragt sie. »Wo ist das Baby?«
»Bei mir … zu Hause … bei Mary …«
Er begann, wirres Zeug zu reden, also mußte sie schnell die Antworten aus ihm rauskriegen, bevor er überhaupt nicht mehr ansprechbar war. »Onkel Michael, das Geschäft wird versteigert, stimmt das? Kann die Versteigerung gestoppt werden? Wieviel schuldest du?«
»Ich hasse den verdammten Laden!« schrie er und schlug mit der Faust auf die Theke. Verängstigt rutschte Seamie von seinem Hokker und versteckte sich hinter seiner Schwester. »Keinen Fuß setz ich da mehr rein! Die verdammte Bank kann ihn haben! Es war unser Laden, meiner und Mollys. Sie hat ihn schön gemacht, ihn zum Laufen gebracht.« Er hielt inne, um aus einem weiteren Glas, das der Barmann vor ihn hingestellt hatte, zu trinken. Seine Augen glänzten jetzt vor Tränen. »Meine Molly!« rief er gequält. Wenn ich doch nur mit ihr gestorben wär. Ich schaff’s nicht ohne sie … ich … kann’s nicht …« Mit zitternden Händen griff er wieder nach seinem Glas.
»Der Laden, Michael«, beharrte Fiona. »Wieviel Geld – schuldest du?«
»Dreihundert Dollar. An die Bank. Noch mal hundert oder so an meine Händler … ich hab’s nicht … hab bloß noch ein paar Dollar, verstehst du?« Er steckte die Hand in die Tasche, zog zwei Scheine heraus und ließ dabei ein paar Münzen fallen. »Verdammter Mist …«, murmelte er, als das Kleingeld über den schmutzigen Boden rollte.
Fiona stützte sich auf die Bar und legte den Kopf in die Hände; er tat unglaublich weh. Das hatte sie nicht erwartet. Ganz und gar nicht. Sie hatte sich einen herzlichen Empfang vorgestellt. Umarmungen ihrer Tante, Sandwiches und Tee und ein dickes fröhliches Baby zum Knuddeln. An so etwas hatte sie nicht gedacht. Kurz darauf stand sie auf. Sie mußte aus dieser Kaschemme raus. Nach New York zu kommen war ein Fehler gewesen. Hier gab es keine Familie, die ihr half. Sie war allein.
Michael sah sie erschrocken an. »Nein«, flehte er und hielt ihre Hand fest. »Du gehst doch nicht? Geh nicht weg!«
»Wir sind müde«, antwortete sie und riß ihre Hand weg. »Seamie ist hungrig. Wir brauchen eine Wohnung, wo wir bleiben können.«
»Meine Wohnung … dort könnt ihr bleiben … bitte, ich hab doch niemanden«, stammelte er, inzwischen gefühlsduselig. Der Alkohol ließ ihn im einen Moment wütend, im nächsten weinerlich werden. »Es ist ein bißchen unordentlich, aber ich mach sauber.«
Fiona lachte bitter. Eine Wohnung saubermachen? Er hatte es nicht einmal geschafft, seine Münzen aufzuheben.
Wieder nahm er ihre Hand. »Bitte!« flehte er.
Gegen ihren Willen sah sie ihrem Onkel in die Augen. Das Elend, das sie dort sah, war so abgrundtief, daß ihr das Nein in der Kehle erstarb. Es wurde allmählich spät, bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie nach einer anderen Bleibe suchen sollte. »Also gut. Wir bleiben«, antwortete sie. »Wenigstens für heut nacht.«
Michael suchte in seiner Tasche und reichte ihr einen Schlüssel. »Geh voraus, ich komm gleich nach«, sagte er. »Ich mach sauber …«, er rülpste, »…bis alles blitzt. Tim, gib uns noch einen …«
Wieder in der Eighth Avenue schloß Fiona die Tür auf, schob Seamie vor sich hinein und ging in den ersten Stock hinauf. Als sie in die Wohnung traten, schlug ihnen der Gestank von saurer Milch und verfaulten Lebensmitteln entgegen. In der Diele war es dunkel, und sie konnten fast nichts sehen. Fiona befahl Seamie stehenzubleiben, dann ging sie, sich an der Wand entlangtastend, den Gang hinunter, bis sie zur Küche kam. Ein zerschlissener Spitzenvorhang hing vor dem Fenster. Sie zog an der Sonnenblende dahinter, die zu ihrem Schrecken laut hochschnellte. Sie hörte Mäuse weghuschen und stampfte laut auf, um auch die letzten von ihnen zu vertreiben. Sonnenlicht fiel in das Zimmer, dessen Strahlen die aufgewirbelten Staubflocken und das schlimmste, unglaublichste Chaos beleuchteten, das sie je gesehen hatte.
Schmutzige Teller stapelten sich im Abwasch und auf Tisch und Boden. Ungeziefer wimmelte in den verkrusteten Überresten, die ihnen die Mäuse übriggelassen hatten. Gläser enthielten altes Bier und verschimmelten Kaffee. An manchen Stellen knirschte der Fußboden, an anderen war er glitschig. Beim Anblick des Waschbeckens wurde ihr schlecht. Sie öffnete das Fenster und ließ frische Luft
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