Die Teerose
weit in den Norden nach Schottland gehen können. Oder nach Westen, nach Devon oder Cornwall. In irgendeinem häßlichen Bergarbeiterort oder in irgendeinem verschlafenen Provinznest wären sie besser dran gewesen. Solange sie bloß irgendwo in England wären statt hier.
23
N icholas Soames zuckte zusammen, als der Arzt das Stethoskop auf seine nackte Brust setzte. »Also wirklich! Wo bewahren Sie das Ding denn auf? In einem Eiskübel?«
Der Arzt, ein ernster, korpulenter Deutscher, verzog keine Miene. »Atmen, bitte«, befahl er. »Einatmen, ausatmen, einatmen und ausatmen …«
»Ja, schon gut. Ich weiß, wie das geht. Hab’s schließlich schon zweiundzwanzig Jahre geübt«, sagte Nick murrend. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Es gefiel ihm nicht in Dr. Werner Eckhardts Untersuchungsraum mit dem scheußlichen Karbolgeruch und den bedrohlichen Instrumenten, aber er hatte keine Wahl. Der Erschöpfungszustand war an Land noch schlimmer geworden. Fiona wollte mehr als einmal den Schiffsarzt kommen lassen, aber er hatte immer abgelehnt. Er durfte es nicht zulassen, sonst hätte man ihn möglicherweise nach London zurückgeschickt.
Gleich nach seiner Ankunft im Hotel hatte er an Eckhardt geschrieben, der ihm als einer der besten seines Fachs bekannt war, und ihn um einen Termin gebeten. Der Arzt hatte ihm geantwortet, daß jemand abgesagt habe und er ihn gleich dazwischenschieben könnte.
Während Nick weiterhin tief atmete, führte Dr. Eckhardt das Stethoskop von seiner Brust auf den Rücken und hörte ihn sorgfältig ab. Dann richtete er sich auf, nahm das Instrument von den Ohren und sagte: »Es liegt an Ihrem Herzen. Dort gibt es Schädigungen, die als Zischen des Bluts hörbar sind.«
Konnte man von einem Deutschen etwas anderes erwarten? Keinerlei Beschönigung, um den Schlag abzumildern, dachte Nick. Kein liebevolles Schulterklopfen, sondern gleich mit der Tür ins Haus. Die Schlagfertigkeit, mit der er sich sonst gegen die Welt und ihre Unbill schützte, ließ ihn im Stich, und er dachte: O Gott. Es ist mein Herz. Mein Herz.
»Ihre Krankheit schreitet fort, Mr. Soames. Wenn Sie das Fortschreiten verlangsamen wollen, müssen Sie besser auf sich achten. Sie brauchen Ruhe. Eine angemessene Ernährung. Und keinerlei Anstrengung.«
Er nickte wie betäubt. Jetzt sein Herz. Was kam als nächstes? Seine Lungen? Sein Gehirn? Er stellte sich vor, wie die Krankheit immer mehr von ihm auffraß, bis er schließlich nur noch Blumen pflücken und Kinderreime singen konnte. Das würde er nicht zulassen. Lieber würde er sich vorher aufhängen.
Während der Arzt weiterredete, wünschte er sich plötzlich, Fiona wäre hier. Sie war so liebevoll, so treu, so gut. Sie würde seine Hand nehmen und ihm sagen, daß alles gut werden würde, genau wie sie es auf dem Schiff getan hatte. Oder nicht? Selbst ein Herz wie das ihre hatte seine Grenzen. Wenn sie herausfand, was wirklich mit ihm los war, würde er sie sicher verlieren, seine liebste Fee, seine einzige Freundin. Genauso wie er alle anderen verloren hatte.
»Hören Sie mir zu, Mr. Soames?« fragte Eckhardt und sah ihn eindringlich an. »Das ist kein Witz. Es ist lebenswichtig, daß Sie genügend Schlaf bekommen. Zehn Stunden in der Nacht und tagsüber einen kleinen Mittagsschlaf.«
»Hören Sie, Dr. Eckardt, ich werde mir mehr Ruhe gönnen, aber ich kann kein Invalide werden. Ich muß eine Galerie aufmachen, und das kann ich nicht vom Lehnstuhl aus tun. Wie steht’s mit einer Quecksilberkur?«
Eckhardt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nutzlos. Sie schwärzt die Zähne, läßt Sie sabbern.«
»Wie reizend. Was haben Sie sonst noch auf Lager?«
»Ein Tonikum, das ich selbst entwickelt habe. Macht den Körper robuster, widerstandsfähiger.«
»Dann versuchen wir das«, antwortete Nick. Als er sich anzog, goß Eckhardt eine dunkle Lösung in ein Glasfläschchen, stöpselte sie zu und erklärte ihm die Dosierung. In einem Monat solle er wiederkommen, dann entschuldigte er sich, weil er zu einem anderen Patienten mußte. Nick band seine Krawatte zu einem lockeren Windsorknoten und sah sich dabei in einem Wandspiegel an. Zumindest sah er äußerlich noch gesund aus, dachte er. Vielleicht ein bißchen blaß, mehr nicht. Eckhardt übertrieb, wie alle Ärzte. So hielten sie ihre Patienten bei der Stange. Er zog seine Jacke an, steckte das Fläschchen ein und bat die Empfangsdame, die Rechnung an seine Hoteladresse zu schicken.
Draußen
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