Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
Weise erröteten. Eine Wäscherin, die Röcke über die fleischigen Knie hochgebunden. Blutbeschmierte Träger aus den Hallen. Und dann sah er das Bild, das ihn einfach umwarf – ein Porträt von zwei Männern beim Frühstück. Einer saß am Tisch mit Toast und einer Zeitung vor sich, der andere trank Kaffee an einem Fenster. Sie waren angekleidet, sahen sich nicht einmal an, aber eine vertraute Haltung wies sie als Liebende aus. Das Bild war gleichzeitig unschuldig und erregend. Nick schluckte. »Zum Teufel, Henri … hast du das schon ausgestellt?«
    Henri kam herüber, um zu sehen, was er anschaute, und schüttelte den Kopf. »Unsere Freunde malen die Wahrheit, Nicholas, und werden mit Kohlköpfen beworfen.« Er lachte. »Oder besser gesagt, ihre Agenten trifft es.« Sein Lächeln verschwand, als er mit den Fingern die Leinwand berührte. »Sie enthüllen uns vor uns selbst, und die Menschen können es nicht ertragen. Würdest du die Wahrheit meines Lebens akzeptieren?«
    Sie waren nicht zu den anderen zurückgekehrt. Sie leerten eine Flasche, öffneten dann eine andere, redeten bis spät in die Nacht über ihre Malerfreunde, die Schriftsteller Zola, Rimbaud und Wilde, die Komponisten Mahler und Debussy und über sich selbst. Und als am nächsten Morgen die Sonnenstrahlen über den schlafenden Henri strichen, lag Nick wach, sah ihn an und wagte kaum zu atmen wegen der beglückenden Erfüllung, die er verspürte …
    Ein Polizist klopfte laut an die Droschke und riß ihn aus seinen Gedanken. »Da vorn ist ein Wagen umgestürzt«, rief er dem Kutscher zu. »Da kommt niemand durch. Biegen Sie in die Fifth Street ab.«
    Nick sah auf das Foto hinab, das noch immer in seiner Hand lag. Die Jacke, die Henri trug, brachte ihn zum Lächeln. Er steckte das Foto wieder in das Uhrengehäuse. Henri hatte gedacht, er sei zu gut, zu großzügig zu ihm gewesen. Das war nicht so. Henris Gaben – Liebe, Lachen, Mut – hatten soviel mehr bedeutet. Er war derjenige gewesen, der ihn ermuntert hatte, seinem Vater die Stirn zu bieten, ein eigenes Leben zu führen und eine eigene Galerie zu eröffnen. Das hatte einiges erfordert, einige Auseinandersetzungen, einschließlich einer ziemlich lautstarken Szene im Louvre. Nick hatte abgewinkt mit der Begründung, es seinem Vater schuldig zu sein, ins Bankgeschäft einzusteigen.
    »Ich bin sein einziger Sohn. Unsere Vorfahren haben die Albion-Bank vor zweihundert Jahren gegründet. Sechs Generationen haben die Bank geführt, von mir wird erwartet, die siebte zu sein.«
    »Aber du haßt das Bankgeschäft, Nicholas!« rief Henri. »Du hast noch nicht mal deine Konten im Griff … du bringst nicht mal deine Einnahmen zur Bank. Das muß ich tun …«
    »Ich weiß, ich weiß …«
    »Und könntest du Paris wegen einer Bank verlassen? Dein hiesiges Leben? Deine Arbeit? Könntest du mich verlassen?«
    »Aber das ist ja das ganze verdammte Problem, Henri. Ich kann dich nicht verlassen.«
    Nick hatte sich in derselben Nacht, in der er Henri kennengelernt hatte, in ihn verliebt, und Henri erwiderte seine Gefühle. Er hatte bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt – heimliche Fummeleien, die ihn mit dem Gefühl, beschmutzt und beschämt zu sein, zurückgelassen hatten, aber er hatte sich nie verliebt. Jetzt hatte er es. Welches Wunder! Plötzlich war die banalste Handlung von Zauber erfüllt. Ein Huhn zu kaufen war eine unbeschreibliche Freude, weil er es Henri bringen, der es mit Kräutern und Wein zubereiten würde. Auf dem Markt weiße Rosen zu finden war die größte Errungenschaft des Tages – ganz zu schweigen von den sechs Bildern, die er verkauft hatte –, weil sie Henris Lieblingsblumen waren. Und an einem Samstag zu Tasset & Lhote zu gehen und die besten Farben und Pinsel zu kaufen – Dinge, die sich Henri nie hätte leisten können – und sie still neben seine Staffelei zu stellen, erfüllte ihn mit unaussprechlichem Vergnügen. Innerhalb eines Monats hatten sie eine gemeinsame Wohnung genommen, worauf ein Jahr vollkommenen Glücks folgte. Nick wurde zweimal befördert. Durand-Ruel behauptete, er habe bei einem so jungen Menschen nie einen so sicheren Instinkt gesehen. Und jeden Abend konnte er zu Henri nach Hause gehen. Um mit ihm zu reden, zu lachen und den Tag Revue passieren zu lassen.
    Aber es gab eine dunkle Wolke am Horizont – seinen Vater. Er war wütend gewesen, als Nick nach Paris ging. Anfangs hatte er ihn in Ruhe gelassen, in der Hoffnung, sein Interesse an Kunst sei nur

Weitere Kostenlose Bücher