Die Teerose
Markt angelangt, der sich hell erleuchtet vor ihnen ausbreitete – überall erklangen Lachen, Geschrei und die auffordernden Rufe der Händler –, ein großes, sich ständig wandelndes Gebilde, in das sie eintauchen und mit ihm verschmelzen konnte. Sie zupfte ihre Mutter am Arm.
»Laß gut sein, Fiona. Ich geh schon, so schnell ich kann«, sagte Kate und warf einen Blick auf ihre Einkaufsliste.
Cockney-Stimmen, aufdringlich und derb, fuhren mit ihrem Geschrei fort. Händler stolzierten herum wie Kampfhähne und ermunterten die Kunden, ihre Waren zu begutachten, oder forderten ihre Konkurrenten heraus, ihre Preise zu senken.
Fiona sah die Auslage des Fischhändlers mit den Tabletts voller Wellhornschnecken, winzigen Muscheln, fetten Heringen und Kübeln voller Austern, von denen einige aufgebrochen waren und glänzend in den Schalenhälften lagen. Daneben befand sich ein Fleischstand, mit rotem und weißem Kreppapier verziert, in dessen Auslage fein säuberlich dicke Schnitzel, Würste und gräßliche, tropfende Schweinsköpfe aufgereiht waren.
Es gab eine Menge Gemüsehändler – die Ehrgeizigeren mit Karren, auf denen kunstvoll aufgeschichtete Obstpyramiden lagen: glänzende Äpfel, duftende Birnen, leuchtende Orangen und Zitronen, Pflaumen und Trauben. Und davor Körbe voller Blumenkohl, Rotkohl, Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln.
Flackernde Gaslichter, Naphtalinflammen und in Rüben gesteckte Kerzenstummel beleuchteten die Szene. Und die Gerüche! Fiona blieb stehen, schloß die Augen und atmete tief ein. Ein salziger Meeresgeruch – in Essig eingelegte Muscheln. Ein Hauch von Gewürzen – mit Zimt und Zucker bestäubte Apfelringe. Gebratene Würste, Pellkartoffeln, warme Ingwernüsse. Ihr Magen knurrte.
Sie öffnete die Augen. Ihre Mutter bahnte sich den Weg zu einem Fleischstand. Als sie beobachtete, wie sie sich durch die Menschenmenge drängte, hatte Fiona den Eindruck, das gesamte East End sei hier versammelt – vertraute Gesichter und fremde. Ernst dreinblikkende fromme Juden auf dem Weg zum Gebet, Seeleute, die in Aspik eingelegten Aal oder heiße Erbsensuppe kauften, alle Arten von Arbeitern, in frischen Hemden und glatt rasiert, die vor den Eingängen der Pubs herumstanden, einige mit zappelnden Terriern unterm Arm.
Und überall zahllose Frauen jeden Alters und Aussehens, die sich drängelten, feilschten und kauften. Einige wurden von ihren Ehemännern begleitet, die Körbe trugen und Pfeife rauchten. Andere hatten quengelnde Kinder auf dem Arm, die um Kuchen, Bonbons oder warme Muffins bettelten.
Fiona sah sich nach ihrer Mutter um und entdeckte sie beim Metzger. »Darf’s Roastbeef sein für morgen, Mrs. Finnegan?« hörte sie den Mann fragen, als sie herantrat.
»Diese Woche nicht, Mr. Morrison. Mein Erbonkel ist noch nicht gestorben. Aber ich brauch ein Bruststück. So um die drei Pfund. Fünf Pence das Pfund, mehr ist nicht drin.«
»Hmm …« Der Mann preßte die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. »Meine Stücke sind heute eher größer … aber ich sag Ihnen, was ich tun könnte, meine Liebe …« – er machte eine dramatische Pause und beugte sich nach vorn – »… ich könnte Ihnen ein Stück mit fünf Pfund zu einem sehr günstigen Preis anbieten.«
»Das ist mir sicher zu teuer.«
»Ach wo«, antwortete er und senkte verschwörerisch die Stimme. »Versteh’n Sie, je größer das Stück, um so weniger verlang ich pro Pfund. Das ist Mengenrabatt. Sie zahlen mehr für das Stück, weil es größer ist, aber eigentlich zahlen Sie weniger …«
Während ihre Mutter und der Metzger miteinander feilschten, hielt Fiona nach Joe Ausschau. Sie entdeckte ihn fünf Karren weiter unten, wo er seine Waren verkaufte. Obwohl der Abend nicht mehr warm war, stand sein Kragen offen, seine Ärmel waren aufgekrempelt, und seine Wangen glühten. Seit etwa einem Jahr ließ Mr. Bristow Joe beim Verkauf mithelfen, anstatt ihn hinter dem Stand zu beschäftigen. Eine weise Entscheidung, denn er war ein Naturtalent. Jede Woche setzte er allein für dreihundert Pfund Waren um – mehr als ein Verkäufer in irgendeinem vornehmen West-End-Laden im Monat. Und das schaffte er, ohne einen klingenden Geschäftsnamen im Rücken, ohne hübsche Schaufenster, Reklametafeln oder Anzeigen. Dazu brauchte er nichts als sein Talent.
Fiona durchfuhr ein prickelnder Schauder, als sie ihn bei der Arbeit beobachtete, während er einen Kunden nach dem anderen aus der Menge anlockte, mit einer Frau Augenkontakt
Weitere Kostenlose Bücher