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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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aufnahm, sie einwickelte, dabei ständig lachte und scherzte – den Redefluß nicht abreißen und das Interesse nicht absinken ließ. Niemand beherrschte das Spiel so gut wie Joe. Er wußte, wie man die Vorlauten unterhielt und mit ihnen schäkerte, welchen Tonfall er für die Mißtrauischen anschlagen mußte und wie man Kränkung und Erstaunen heuchelte, wenn jemand die Nase über seine Waren rümpfte, worauf er ihn aufforderte, irgendwo in London einen besseren Bund Karotten, schönere Zwiebeln zu finden. Mit dem Geschick eines Schauspielers schnitt er eine Orange auf und ließ den Saft in hohem Bogen auf die Pflastersteine spritzen. Fiona bemerkte, daß dies die Aufmerksamkeit von Passanten in zehn Metern Entfernung erregte. Dann öffnete er eine Tüte aus Zeitungspapier und gab »Nicht zwei, nicht drei, sondern vier große und schöne Orangen, alle für zwei Pence!« hinein, machte sie zu und überreichte sie mit einer schwungvollen Gebärde.
    Seine schönen himmelblauen Augen und sein Lächeln waren dem Geschäft bestimmt auch nicht abträglich, dachte Fiona. Ebensowenig der dichte Schopf dunkelblonder Locken, der unter seiner Mütze hervorquoll. Ein warmer Schauder lief ihr über den Rücken, und ihre Wangen färbten sich rosig. Sie wußte, daß sie ihre Gedanken rein halten sollte, wie die Nonnen es sie gelehrt hatten, aber das wurde immer schwieriger. An seinem offenen Kragen, unterhalb seines roten Halstuchs, kam ein Stückchen nackter Haut zum Vorschein. Sie stellte sich vor, ihn dort zu berühren, ihre Lippen darauf zu drücken. Seine Haut wäre so warm und würde so gut riechen. Sie liebte es, wie er roch – nach all dem frischen Grünzeug, mit dem er den ganzen Tag zu tun hatte. Nach seinem Pferd. Nach der Ostlondoner Luft, die mit Kohlenrauch und dem Duft des Flusses getränkt war.
    Einmal hatte er sie unter ihrer Bluse angefaßt. Im Dunkeln, hinter der Black-Eagle-Brauerei. Er hatte ihre Lippen, ihren Hals, ihren Nacken geküßt, bevor er ihre Bluse öffnete, dann ihr Mieder und seine Hand hineingleiten ließ. Sie glaubte, sie würde vergehen von seiner Berührung, von ihrem eigenen Begehren. Sie hatte sich entzogen, nicht aus Scham oder Sittsamkeit, sondern aus Angst, mehr zu wollen und nicht zu wissen, wohin dieses Begehren führen würde. Sie wußte, daß es Dinge gab, die Männer und Frauen zusammen taten, Dinge, die vor der Ehe nicht erlaubt waren.
    Niemand hatte ihr je von diesen Dingen erzählt – das wenige, das sie wußte, hatte sie auf der Straße aufgeschnappt. Sie hatte Männer in der Nachbarschaft über das Decken ihrer Hunde reden hören, die groben Scherze junger Männer und, gemeinsam mit ihren Freundinnen, die Gespräche ihrer Schwestern und Mütter belauscht. Einige berichteten mit Märtyrermiene, daß sie mit einem Mann im Bett gewesen seien, andere kicherten und lachten und behaupteten, nicht genug davon kriegen zu können.
    Plötzlich wurde sie von Joe entdeckt, der sie strahlend anlächelte. Sie errötete und war sich sicher, daß er wußte, woran sie gerade dachte.
    »Komm mit, Fee«, rief ihre Mutter. »Ich muß noch das Gemüse besorgen …« Kate überquerte die Straße zum Stand der Bristows, und Fiona folgte ihr.
    »Hallo, meine Liebe!« rief Joes Mutter ihrer Mutter zu. Rose Bristow und Kate Finnegan waren in derselben trübseligen Seitenstraße der Tilley Street in Whitechapel aufgewachsen und wohnten jetzt in der Montague Street nur ein Haus voneinander entfernt. Von den Geschichten, die ihre Ma ihr erzählt hatte, wußte Fiona, daß sie als Mädchen unzertrennlich gewesen waren, ständig miteinander getuschelt und gekichert hatten. Selbst jetzt noch, als verheiratete Frauen, fielen sie schnell in ihr Backfischverhalten zurück.
    »Ich dachte schon, der Mörder hätte dich vielleicht erwischt«, sagte Rose zu Kate. Sie war eine kleine, füllige Frau mit dem gleichen offenen Lächeln und den gleichen fröhlichen blauen Augen wie ihr Sohn. »Scheint, daß er die Woche Überstunden macht. Hallo, Fiona.«
    »Hallo, Mrs. Bristow«, antwortete Fiona, ohne den Blick von Joe abzuwenden.
    »Ach, Rose!« sagte Kate. »Mach keine Scherze darüber! Es ist furchtbar! Ich bete zu Gott, sie würden ihn fassen. Ich bin schon unruhig, wenn ich bloß auf den Markt rausgeh. Aber man muß ja was essen, nicht wahr? Ich brauch drei Pfund Kartoffeln und zwei Pfund Erbsen. Wie teuer sind deine Äpfel, meine Liebe?«
    Joe reichte den Brokkoli, den er gerade in der Hand hielt, seinem Vater. Er

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