Die Teerose
hübsche runde Gesicht seiner Mutter. Als Fiona seine Händchen nahm und ein paar liebe Worte murmelte, wurde sie mit einem breiten, zahnlosen Lächeln belohnt. Sie hob das Baby aus dem Korb und nahm es mit in die Küche.
»Fertig!« sagte Mary, nachdem sie die letzte von Nells Windeln vors Fenster gehängt hatte. Sie lächelte, als sie Fiona und Nell zusammen sah. »Sie ist wirklich eine kleine Prinzessin. Sagen Sie, Fiona, sind Sie etwa Patrick Finnegans Tochter? Aus London?«
»Ja, das bin ich.«
»Das hab ich mir gedacht. Der Akzent hat Sie verraten. Molly hat mir von Michaels Bruder erzählt. Ich glaube, sie hatte sich Hoffnungen gemacht, Ihren Bruder nach New York locken zu können – Charlie heißt er, nicht? –, um im Geschäft zu arbeiten.«
»Das hätte ihm gefallen.«
»Hätte? Ist er nicht mit Ihnen gekommen?«
»Nein. Er ist vor sieben Monaten gestorben.«
»Das tut mir leid«, sagte Mary und stellte die Teekanne ab, die sie gerade in die Hand genommen hatte. »Wie schrecklich für Sie und Ihre Eltern, ihn in so jungen Jahren zu verlieren.«
»Die haben wir schon verloren, bevor Charlie gestorben ist», antwortete Fiona. Mary ließ die Teekanne stehen und setzte sich, und Fiona erzählte ihr eine Kurzfassung dessen, was ihr und Seamie im Lauf der letzten Monate widerfahren war.
»Gütiger Gott, Fiona, nach all dem sind Sie nach Amerika gefahren und finden Ihren Onkel in diesem Zustand vor. Was für ein Schock das für Sie gewesen sein muß.«
»Ja. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn schon überwunden hab«, antwortete sie mit einem Anflug von Bitterkeit. »Aus allem, was meine Eltern mir erzählt haben und was ich aus seinen Briefen von ihm wußte, hab ich ihn für einen guten Menschen gehalten. Ich hätte nie gedacht, daß er so lieblos ist.«
Mary schüttelte den Kopf. »Nein, das ist er nicht. Das dürfen Sie nicht denken. Zumindest … war er’s nicht. Er war der netteste Mensch, den man sich denken kann. Immer ein Lächeln auf den Lippen, immer hilfsbereit. Es ist der Alkohol, der ihn so verändert hat. Bevor Molly starb, hat er nie getrunken. Vielleicht mal ein oder zwei Gläser in seinem Stammlokal, aber er war kein Säufer. Er war ein guter Mann, ein guter Ehemann. Sehr fleißig. Er hat seine Wohnung renoviert und wollte auch meine herrichten. Und er wollte das Geschäft vergrößern. Er hatte so viele Pläne. Wenn Molly ihn jetzt sehen könnte, wäre sie entsetzt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich hab’s mit guten und mit harten Worten probiert. Ich hab ihm Nell weggenommen. Aber nichts hilft. Bald wird er auf der Straße stehen. Und was dann? Molly war meine beste Freundin. Nell liebe ich wie mein eigenes Kind. Was soll ich ihr sagen, wenn sie groß ist? Daß ihr eigener Vater sie aufgegeben hat?« Sie brach ab. »Ach, mein Gott, ich …« Sie wischte sich die Augen ab. »Tut mir leid. Ich kann nicht mit ansehen, was er sich antut. Es ist der Kummer. Das weiß ich. Er hat nie geweint, Fiona. Nicht einmal. Frißt alles in sich hinein. Trinkt und grölt herum, obwohl er eigentlich weinen müßte.«
Mary schenkte den Tee ein und schnitt dicke Scheiben Ingwerbrot ab. Fiona probierte davon. Es war gut, und sie machte Mary Komplimente dafür. Dann probierte sie den Tee. Er war scheußlich. Genauso schlecht wie der Tee, den sie gestern gekauft hatte. Der Ladeninhaber hatte ihn als »delikat« bezeichnet. »Spülwasser« wäre zutreffender gewesen. Er war drittklassig, ein schwarzer chinesischer Tee, genauso flach und geschmacklos wie eine alte Strohmatte. Stuart Bryce, der Mann, mit dem sie und Nick sich auf dem Schiff angefreundet hatten, ein Tee- und Kaffeeimporteur, der in New York ein Büro für seine Firma eröffnete, hatte sie vor amerikanischem Tee gewarnt. Sie nahm sich vor, indischen Tee für sich aufzutreiben. Wie alle Londoner fand Fiona die Mißgeschicke des Lebens leichter zu ertragen, wenn sie eine gute Tasse starken Tee in der Hand hielt.
Mary rührte Zucker in ihre Tasse und sagte dann: »Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, aber er wird sein Geschäft verlieren. Das ist schlecht für ihn und für uns auch. Die neuen Besitzer lassen uns vielleicht nicht hierbleiben. Ich weiß nicht, wohin wir gehen sollen. Michael hat nicht viel von uns verlangt. Und ich weiß nicht, wo wir eine Wohnung mit einem Hinterhof für Alec und seine Pflanzen finden sollen. Das ist mein Schwiegervater. Er ist Gärtner. Er findet keine richtige Arbeit mehr, dafür ist er zu alt, aber er
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