Die Teerose
jetzt hatte sie von den fünfhundert Pfund erst vierzig ausgegeben. Fünfzig Pfund hatte sie auf dem Schiff gewechselt, und die hatten ihr zweihundert amerikanische Dollar eingebracht. Die verbleibenden vierhundertzehn Pfund würden ihr über zweitausend Dollar einbringen. Es war ein Vermögen, aber zugleich ihre und Seamis Zukunft, und das mußte sie bewahren. Aus Erfahrung wußte sie, daß Fabriklöhne kaum mehr einbrachten als die Miete für ein schäbiges Zimmer und karge Mahlzeiten. Wenn sie nicht aufpaßte, würde sie das Geld zuschießen, und schließlich bliebe nichts mehr davon übrig. Und am Ende bliebe sie genauso arm wie in Whitechapel. Aber sie war entschlossen, nie mehr arm zu sein. Sie würde reich werden. Sie hatte sich geschworen, William Burton und Bowler Sheehan nicht zu vergessen, und obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie ihre Rache ausführen sollte, wußte sie, daß sie dafür Geld brauchen würde – eine Menge Geld. Sie würde auf- und nicht absteigen in der Welt, und dieses schnarchende Wrack im Zimmer nebenan würde ihr dabei helfen.
Im Badezimmer nahm sie ein Glas vom Waschbecken und füllte es mit kaltem Wasser. Wieder im Schlafzimmer ihres Onkels, goß sie es über seinem Kopf aus.
Er schnappte nach Luft, prustete und setzte sich auf. Verständnislos sah er sie an. »Wer zum Teufel bist du? Und warum willst du mich ertränken?«
Ungläubig starrte sie ihn an. »Erinnerst du dich nicht? Ich bin deine Nichte, und das da ist dein Neffe. Fiona und Seamie. Wir haben uns gestern bei Whelan’s unterhalten. Du hast gesagt, wir könnten hierbleiben.«
»Ich hab gedacht, das hätt ich geträumt«, antwortete er und hob seine Hose vom Boden auf.
»Dann denk noch mal nach«, erwiderte sie ärgerlich. »Das hast du nicht geträumt. Genausowenig wie du geträumt hast, daß die Wohnung sauber, das Bett gemacht ist und in der Küche ein Schweineschnitzel auf einem Teller liegt. Wer, glaubst du wohl, hat das gebraten? Die Heinzelmännchen?«
Michael drückte die Hände an die Ohren und verzog das Gesicht. »Mein Kopf tut weh. Red nicht soviel.«
Fiona wurde wütend. »Ich werde reden, und du wirst mir zuhören. Du mußt mit dem Trinken aufhören, Onkel Michael. Es tut mir leid, daß Tante Molly gestorben ist, ich weiß, daß das schwer für dich war, aber du wirst deinen Laden verlieren.«
»Den hab ich schon verloren«, antwortete er. »Ich hab zweihundert Dollar Schulden. Geld, das ich nicht hab.« Daraufhin öffnete er die oberste Schublade seines Sekretärs.
»Aber ich.«
Er lachte. »Soviel hast du nicht«, erwiderte er und kramte in der Schublade herum.
»Doch, ich hab eine … Entschädigung. Vom Arbeitgeber meines Vaters. Für seinen Unfall. Ich leih dir, was du brauchst. Du kannst die Bank und alle deine Gläubiger ablösen.«
»Ah!« sagte Michael, als er gefunden hatte, wonach er suchte. Er zog eine Flasche heraus und nahm einen großen Schluck.
»Nein, hör auf damit!« rief Fiona aus. »Onkel Michael, bitte! Hör zu …«
»Nein, du hörst mir zu«, sagt er, und sie schrak zusammen angesichts seiner plötzlichen Heftigkeit. »Ich will dein Geld nicht. Ich will deine Hilfe nicht. Ich will bloß in Ruhe gelassen werden.« Er nahm noch einen Schluck Whiskey, warf sich ein Hemd über und ging hinaus.
Fiona eilte ihm nach, Seamie im Schlepptau. »Aber ist dir der Laden denn egal?« fragte sie. »Bist du dir selbst egal? Dein Baby? Sind wir dir egal?«
Michael schnaubte. »Warum sollst du mir nicht egal sein, Mädchen? Ich kenn dich ja noch nicht mal.«
Fiona zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden. Du Mistkerl, dachte sie. Wenn es andersherum wäre, wenn seine Kinder zu ihren Eltern gekommen wären, hätte ihr Pa sie nicht so schäbig behandelt.
»Du wirst in der Gosse landen«, sagte sie, und ihre Wut flammte auf wie die Zündkapsel an einer Ladung Dynamit. »Ein Stadtstreicher, der kein Zuhause mehr hat. Du wirst auf der Straße schlafen, dich aus Abfallkübeln ernähren. Bloß weil du dich nicht zusammenreißen willst. Glaubst du, andere Leute hätten keine Verluste erlitten? Glaubst du, du bist der einzige? Ich bin fast wahnsinnig geworden, als ich meine Eltern verloren hab, aber ich hab’s durchgestanden. Seamie genauso. Ehrlich gesagt hat dieser Fünfjährige mehr … mehr Mumm, als du hast!«
Das saß. »Du gibst nicht auf, was?« sagte er und griff in seine Tasche. Fiona zuckte zurück, als er etwas nach ihr warf. Es landete mit einem Knall vor ihren Füßen.
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