Die Teerose
seinen Erinnerungen gerissen. Er stieg aus und bezahlte den Kutscher. Vornehm, dachte er, als er sich in der Gegend umsah. Alter Besitz. Er lächelte und fragte sich, wie alt Besitz in New York wohl sein konnte. Eine Generation? Zwei? Es war ihm egal, ob alt oder neu, solange die New Yorker seine Bilder kauften.
Und das würden sie. Durand-Ruel war 1886 mit dreihundert impressionistischen Gemälden nach New York gekommen, und die Reaktion war überwältigend gewesen. Hier gab es eine Menge reicher Leute mit genügend Geschmack und Bildung, um die neue Kunst zu schätzen. Und er hätte ihnen eine Menge zu verkaufen. Bevor er nach Amerika abgefahren war, hatte er mehrere tausend Pfund an die Galerie geschickt – fast sein ganzes Geld –, gemeinsam mit einem Telegramm, das seine früheren Kollegen informierte, was er haben wollte, und mit der Bitte, die Gemälde an ein Lagerhaus in New York zu schicken. Sie würden in einer Woche ankommen. Und wenn sie da waren, wäre es, als würde er in die Gesichter von alten Freunden sehen. Jedes Bild enthielt einen Teil des Lebens und der Seele des Künstlers. Auch ein Teil seines Lebens steckte darin. Seines und Henris. Wenn er Erfolg hatte, wenn er Märkte für die neuen Maler fand, sie mit Einkommen versorgte, damit sie weitermalen konnten, dann entstünde aus all seinen Leiden doch noch etwas Gutes.
Immer noch lächelnd, machte er sich auf den Weg zu dem Makler. Eckhardt kann sich seine Düsternis und Weltuntergangsstimmungen an den Hut hängen, dachte er. Er hatte nicht vor, in nächster Zeit abzutreten. Weder heute noch morgen. Er hatte wichtige Arbeit zu erledigen, und die wollte er in Angriff nehmen.
24
O nkel Michael?« rief Fiona an der Schlafzimmertür ihres Onkels. »Onkel Michael, hörst du mich? Du mußt jetzt aufstehen.« Keine Antwort. Er lag auf dem Rücken, in Laken verheddert auf seinem Bett. Seine Hemdhose war schmutzig, in den Sokken waren Löcher.
»Vielleicht ist er tot«, gab Seamie zu bedenken.
»Fang nicht wieder damit an, Seamie. Er ist nicht tot. Tote schnarchen nicht.«
Wieder rief sie den Namen ihres Onkels. Als er immer noch nicht antwortete, schüttelte sie ihn. Er schnarchte weiter. Vorsichtig schlug sie ihm auf die Wange, dann packte sie einen Arm und zog ihn hoch. Er fiel wieder zurück. Angewidert gab sie ihm einen Klaps und ging dann ins Badezimmer.
Im Lauf ihrer ersten, schlaflosen Nacht in New York war Fiona zu der Überzeugung gelangt, daß Michael seinen Laden nicht verlieren durfte, weil sowohl sein als auch ihr Lebensunterhalt davon abhing. Gestern, nachdem sich Seamie zu einem Nickerchen hingelegt hatte, war sie einkaufen gegangen. Sie mußte sieben Straßen weit gehen, bevor sie einen anständigen Laden fand. Der Inhaber war von der gesprächigen Sorte, fragte sie, wer sie war, und erzählte dann, daß er ihren Onkel kannte und wußte, wie schwer er gearbeitet hatte, um das Haus zu kaufen. »Er hat gut verdient mit seinem Geschäft. Das könnte er wieder, wenn er mit dem Saufen aufhören würde«, fügte er hinzu.
Nachdem sie zurückgekommen war, krempelte sie die Ärmel hoch, band den Rock zusammen und machte sich ans Putzen. Unter all dem Unrat trat schließlich eine geräumige, gutgeschnittene Wohnung zutage. Abgesehen von Michaels Schlafzimmer waren da ein zweites Schlafzimmer, in dem sie die Nacht verbracht hatte, und ein Kinderzimmer, das Seamie bewohnte. Es gab ein echtes Badezimmer mit Spülklosett, Porzellanwaschbecken und Badewanne. Außerdem ein Wohnzimmer und eine Küche mit einem neuen Herd, Doppelabwaschbecken und einem großen runden Eichentisch. Beim Putzen und Abstauben entdeckte sie viele hübsche Kleinigkeiten. Eine grüne Glasvase mit der Aufschrift »Souvenir aus Coney Island«, ein paar Kerzenhalter aus Preßglas neben einer Schmuckschatulle, die mit Muscheln verziert war. Gerahmte Blumenbilder. Im Wohnzimmer stand eine mit blauem Samt bezogene Sitzgruppe, und auf dem Boden lag ein Wollteppich in dunklen und hellen Grüntönen. Nichts davon war erste Qualität, aber alles war sorgfältig ausgesucht und kündete vom soliden Wohlstand eines einfachen Ladenbesitzers.
Offensichtlich hatte ihr Onkel ausreichend verdient, und das konnte er wieder. Sie selbst würde nicht wieder in einer Teefabrik arbeiten oder für ein Trinkgeld Lokale putzen, sie würde, ganz wie vorgehabt, für ihn arbeiten. Sie würde das Geschäft erlernen, und dann würde sie mit Burtons Geld ihren eigenen Laden aufmachen. Bis
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