Die Teerose
oben bringe. Fiona sagte den Jungen, sie sollten ebenfalls nach oben gehen und sich waschen. Mit schmutzigen Händen griff sie in die Tasche und zog zwei Vierteldollarstücke heraus. »Geh und kauf Mittagessen … ich meine Lunch … für alle, wenn du fertig bist, Ian«, sagte sie. »Und nimm bitte Seamie mit.«
Als sie fort waren und es ruhig im Laden war, setzte sich Fiona auf einen Hocker hinter der Theke und lehnte sich an die Wand. Sie schwitzte, fühlte sich schmutzig, müde und niedergeschlagen. Der Optimismus, der sie am Freitag an Marys Küchentisch beflügelt hatte, war verflogen, und sie hatte das sichere Gefühl, ihre Kräfte überschätzt zu haben. Gemeinsam mit Mary, Ian und Robbie putzte sie nun ununterbrochen seit Tagen, aber immer noch lag ein Berg Arbeit vor ihr. Sie hatte gedacht, Michaels Wohnung sei verkommen, doch sie war nichts im Vergleich mit dem Laden.
Ungeziefer und Vernachlässigung hatten ein Werk der Zerstörung angerichtet. Als sie den grauenvollen Gestank des verfaulten Fleischs beseitigt hatten, entdeckte Mary ein Rattennest in einer Teekiste. Einige hatten Fässer mit Essiggurken angefressen, die auf den Boden ausliefen, oder Zigarrenkisten angenagt, um an den Tabak zu kommen. Im Mehl steckten Getreidekäfer, und auf den Honig- und Sirupkrügen lagen tote Fliegen. Obst und Gemüse lag verwelkt in den Körben.
Allein zwei Tage hatten sie gebraucht, um die verrotteten Waren hinauszuschaffen. Die Fleischtheke mußte weggeworfen werden, sie war ruiniert. Mary, Ian und Robbie hatten wie Ackergäule geschuftet. Sie wollte ihnen Geld geben, aber Mary weigerte sich, etwas zu nehmen. Dennoch hatte Fiona es geschafft, den Jungs einen Dollar zuzustecken, wenn sie nicht hersah. Auch Alec legte sich ins Zeug und zimmerte im Hinterhof Blumenkästen. Sogar Seamie beteiligte sich und staubte alles ab, was sich in seiner Reichweite befand. Nur Michael war nirgendwo zu sehen. Er hatte keinen Finger gerührt, um zu helfen. Nicht einmal, als sie ihn am Morgen bei Whelan’s aufsuchte, um ihn wegen der Registrierkasse zu fragen.
»Ich krieg die Schublade nicht auf, Onkel Michael«, sagte sie aufgebracht, ärgerlich, weil er schon wieder sturzbetrunken war. »Gibt’s einen Schlüssel dazu?«
»Ja.«
»Kann ich ihn haben?«
»Nein. Es ist nicht deine Kasse. Es ist nicht dein Laden«, brüllte er zurück, so betrunken, daß er sich an der Bar festhalten mußte, um nicht von seinem Hocker zu kippen.
»Aber du hast gesagt, ich soll ihn nehmen.«
»Hab’s mir anders überlegt. Ich will nicht, daß er aufgemacht wird.«
»Du Mistkerl! Gib mir verdammt noch mal den Schlüssel!« rief sie außer sich.
»Gib mir zuerst einen Dollar«, antwortete er.
»Was?«
»Gib mir einen Dollar, dann kriegst du den Schlüssel.«
»Ich glaub’s nicht. Du willst mir den Schlüssel verkaufen? Schämst du dich nicht?«
»An Scham mangelt’s mir nicht, mein Mädchen. An Bargeld bin ich knapp.«
Fiona schäumte. Sie wollte nicht, daß noch mehr Geld von Michael in die Kasse von Whelans Bierstube floß, aber sie brauchte den Schlüssel. Sie zog einen Schein aus der Tasche und wechselte ihn gegen den Schlüssel ein. »Ein Dollar«, sagte sie. »Das ist alles, was du kriegst, also sieh zu, daß er eine Weile reicht.«
Sie sah ihren Onkel wütend an, drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. Mit der Hand schon auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um, sah Michael an und sagte: »Sie ist hübsch, weißt du.« Er starrte sie verständnislos an. »Deine Tochter. Nell. Sie hat deine blauen Augen und dein schwarzes Haar, ansonsten ist sie ganz Molly.«
Ein schmerzlicher Ausdruck strich über sein Gesicht, als er den Namen seiner Frau hörte. »Nell wird sie genannt?» fragte er. Er bestellte ein weiteres Glas.
»Blöder Kerl«, murmelte sie jetzt und begann wieder zu putzen. Sie brauchte seine Hilfe so dringend. Mit dem Putzen kam sie zurecht, so schwer es auch sein mochte. Aber die Gespräche mit der Bank und den Gläubigern erforderten Kenntnisse, die sie nicht besaß. Zwei von Michaels Lieferanten – der Müller und der Fischhändler – hatten bereits Besuche abgestattet. Sie hatten den Laden geöffnet gesehen und waren gekommen, um ihr Geld einzutreiben. Sie hatte es ihnen gegeben, in der Hoffnung, sich lieb Kind zu machen, in der Hoffnung, sie würden den Kredit ihres Onkels erneuern, aber sie weigerten sich. Wie würde sie neue Lieferanten finden? Und falls sie welche fand, woher sollte sie wissen,
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