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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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»Da!« schrie er. »Nimm ihn! Nimm den verdammten Laden! Er gehört dir. Aber laß mich in Ruhe, du Hexe!«
    Er ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Fiona spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie senkte den Blick, damit Seamie sie nicht sah. Und dann entdeckte sie etwas Silbernes, das sich glänzend von den dunklen Bodendielen abhob. Es war der Schlüssel. Michaels Worte klangen in ihren Ohren nach. Nimm ihn. Er gehört dir. Sie beugte sich hinunter, berührte ihn, zog aber dann schnell die Hand wieder zurück.
    Was dachte sie sich bloß? War sie verrückt? Man mußte eine Menge wissen, um einen Laden zu führen – wie man die richtige Menge Ware bestellte, wie man den Bestand hielt und einen Bankauszug las. Davon hatte sie keine Ahnung, nur Joe wußte das. Aber Joe ist nicht da, sagte ihr eine innere Stimme. Jene Stimme, die sie immer auf Dinge hinwies, die sie lieber nicht hören wollte. Er ist in London, fuhr sie fort, mit Millie Peterson. Und du bist in New York, ohne Arbeit, in einem Haus, das dir unter dem Hintern weg verkauft wird, wenn du nicht aufhörst herumzujammern und etwas dagegen unternimmst.
    Sie streckte die Hand aus und griff nach dem Schlüssel. Im selben Moment hörte sie Schritte auf der Treppe, dann ein zaghaftes Klopfen. Quietschend sprang die Tür auf. »Hallo? Michael?« rief eine Stimme. »Bist du da?«
    Sie hob den Schlüssel auf, steckte ihn ein und stand auf.
    »Hallo?« Eine Frau steckte den Kopf durch die Tür. »Michael? Oh!« rief sie verblüfft aus. »Mein Gott! Sie haben mich erschreckt.« Sie trat ein und drückte ihre rote, aufgedunsene Hand an die Brust. Sie war klein, kräftig gebaut, mit dichtem kastanienbraunem Haar, das zu einem Knoten gebunden war, und einem freundlichen runden Gesicht mit großen braunen Augen. Ihre Ärmel waren hochgekrempelt und ihre Arme mit Seifenlauge bespritzt. »Ich bin Mary Munro, Michaels Mieterin. Ich wohne oben«, sagte sie.
    »Ich bin Fiona Finnegan, und das ist mein Bruder Seamie. Wir sind Michaels Nichte und Neffe. Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt hab, das wollte ich nicht.«
    Mary sah die Tränenspuren auf Fionas Gesicht. »Ich hab Schreie gehört. Deshalb bin ich runtergekommen«, sagte sie mit weichem schottischem Akzent. »Offensichtlich hat er Ihnen einen schönen Empfang bereitet.«
    Fiona rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Nicht ganz der Empfang, den wir uns erwartet haben.«
    Mary schüttelte den Kopf. »Kommen Sie mit nach oben. Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse Tee vertragen.« Sie plauderte fröhlich weiter, als sie sie in den zweiten Stock hinaufführte. Fiona erfuhr, daß sie vor zehn Jahren aus Schottland ausgewandert war und seit drei Jahren mit ihrem Sohn und Schwiegervater hier wohnte. Ihr Mann war tot. Er war bei einem Zugunglück im Frachthof ums Leben gekommen. An der Tür wurden sie von einem großen, vierzehnjährigen Jungen begrüßt, den Mary als ihren Sohn vorstellte.
    »Nimm das hübsche Geschirr, Ian, und stell Wasser auf«, sagte sie, nachdem sie sie aufgefordert hatte, am Küchentisch Platz zu nehmen. »Ich spül noch schnell die Wäsche aus und häng sie auf, dann trinken wir eine schöne Tasse Tee.«
    Marys Küche roch nach köstlichen Dingen – nach Brot, Zimt und Speck. Das Abwaschbecken glänzte. Die Herdplatte war frisch geschwärzt. Der Linoleumboden hatte an verschiedenen Stellen Risse, blinkte aber frisch gewachst. Weiße Leinenvorhänge hingen an den Fenstern. Alles war schlicht, aber makellos sauber und erinnerte Fiona an die Küche ihrer Mutter, was sie als tröstlich empfand.
    »Möchten Sie einen Blick auf Ihre Cousine werfen?« fragte Mary und wand Windeln aus.
    »Das Baby? Ist es hier?«
    »Ja. Es ist im Wohnzimmer. Ein hübsches Ding. Ich hab es seit der Beerdigung bei mir.«
    »Ach, ich bin so froh, daß es der Kleinen gutgeht«, sagte Fiona. »Michael hat mir gesagt, sie sei bei einer Freundin, aber er hat mir nicht gesagt, wo. Nicht mal ihren Namen hat er mir genannt.«
    Mary schüttelte den Kopf. »Der weiß ja seinen eigenen Namen nicht mehr. Eleanor heißt sie, nach Mollys Mutter. Wir nennen sie Nell. Gehen Sie nur, und schauen Sie sie an. Ich brauch nicht mehr lang.«
    Fiona ging ins Wohnzimmer und sah eine geballte kleine Faust, die in einem Wäschekorb herumfuchtelte, und hörte eine fröhlich plappernde Stimme. Sie sah hinein. Das kleine Mädchen sah richtig süß aus. Es hatte das schwarze Haar und die blauen Augen seines Vaters und das

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