Die Teerose
jener Nacht nicht so kalt zu ihr gewesen sei, und wollte wissen, warum er sich geändert habe.
»Damals hast du dich gern von mir küssen lassen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Du hast es gar nicht erwarten können, mich anzufassen. Du hast gesagt, daß du mich begehrst, Joe. Du hast mir gesagt, daß du mich liebst.«
»Ich hab dir nie gesagt, daß ich dich liebe, Millie«, antwortete er ruhig. »Wir beide wissen das.«
Als sie schließlich nach Hause zurückkehrten, bestand ihre Beziehung nur noch aus Streitereien. Fast jeden Morgen ging Joe bei Tagesanbruch fort und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück, um ihr aus dem Weg zu gehen und sich ausschließlich der Arbeit zu widmen. Der Buckingham-Palast hatte Peterson’s ein königliches Wappen verliehen, das Geschäft wuchs und hatte sein Volumen inzwischen nahezu verdoppelt. Tommy war begeistert. Er war über Joe genauso froh, wie Millie wütend auf ihn war. Aber Joe fand nur Ablenkung in seiner Arbeit, keinen Trost.
Seine Mutter schrieb ihm mehrmals, nachdem er zurückgekehrt war. Er solle sie besuchen, sie müsse mit ihm sprechen. Es gäbe Dinge, die sie ihm mitteilen wolle. Aber er ging nicht hin. Er wollte seine Familie nicht besuchen, sie würden nur sehen, wie elend er sich fühlte. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, in die Montague Street zurückzukehren, Fionas Haus und die Orte zu sehen, an denen sie spazierengegangen waren. Orte, an denen sie über ihre Träume, ihre Zukunft gesprochen hatten. Orte, wo er sie umarmt und geküßt hatte. Ein paarmal kam seine Mutter in sein Haus oder sein Büro, aber er war jedesmal unterwegs.
Er wollte nichts anderes als Fiona sehen. Sie nur sehen. Ihr wieder in die Augen blicken. Sich selbst darin sehen und wissen, daß sie ihn immer noch liebte. Hören, wie sie seinen Namen sagte. Aber er wußte, daß er kein Recht dazu hatte, außerdem hatte er es ihr versprochen, und lange Zeit war er in der Lage, sein Versprechen zu halten. Bis eines Abends im März seine Sehnsucht nach ihr überwältigend wurde und er nach Whitechapel zurückging. Das Herz tat ihm weh, wenn er sich jetzt daran erinnerte. Wenn er nur gewußt hätte, was passiert war, wenn er nur gewußt hätte, was sie durchmachen mußte. Er erinnerte sich so deutlich daran, an den entsetzlichen Schock …
»Joe, Junge, bist du immer noch da? Es ist vier Uhr!« sagte Tommy Peterson. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, früher heimzugehen. Ein bißchen Zeit mit deiner Frau zu verbringen.«
»Ich wollte nur diese Abrechnungen fertig machen …«, begann er.
»Die können warten. Geh heim und genieß deinen Abend. Das ist ein Befehl.«
Joe zwang sich zu lächeln und dankte Tommy. Sobald sein Schwiegervater fort war, verschwand das Lächeln. Nach Hause gehen war das letzte, was er wollte. Letzte Nacht war er spät heimgekommen und hatte Millie im Speisezimmer vor Tellern mit kaltem, vertrocknetem Essen angetroffen. Eigentlich hätte er mit ihr zu Abend essen sollen. Er hatte es versprochen und dann vergessen. Sie packte einen Teller mit Lachs und bewarf ihn damit. Wer wußte, was sie heute abend tun würde?
Er legte seine Papiere weg und rief nach seiner Kutsche. Als er nach Westen fuhr, stellte er sich den langen Abend vor, der vor ihm lag. Er fiel in seinen Sitz zurück und drückte die Handballen auf die Augen. Er fühlte sich wie ein Gefangener. Er konnte nicht in die Albemarle Street fahren, Millie nicht gegenübertreten. Er stöhnte und wünschte, er könnte schreien, bis er heiser war. Er wünschte, er könnte die Kutsche kurz und klein schlagen, davonlaufen und in den Straßen von London untertauchen. Er öffnete die Augen, löste die Krawatte und machte den Hemdkragen auf. Es war stickig in der Kutsche, er konnte kaum atmen. Er mußte aussteigen, brauchte frische Luft. Er brauchte Fiona.
Noch bevor er es sich anders überlegen konnte, rief er dem Kutscher zu anzuhalten. »Ich steig hier aus. Nehmen Sie meine Sachen mit nach Hause und sagen Sie Mrs. Bristow, daß es spät wird.«
»Sehr wohl, Sir.«
Er hielt eine Droschke an und gab dem Kutscher die Adresse von Burton’s in Whitechapel. Wenn er Glück hätte, käme er vor Arbeitsschluß an und könnte sie abpassen, wenn sie herauskam. Sie wäre wütend auf ihn – darauf machte er sich gefaßt –, aber vielleicht, vielleicht würde sie mit ihm reden.
Kurz vor sechs kam er vor der Fabrik an. Er wartete vor den Toren und ging nervös auf und ab. Schließlich ertönte das Signal, die
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