Die Teerose
stand er auf. »Ich muß sie finden …«, sagte er. Er machte einen Schritt auf die Tür zu, ihm wurde schwindelig, seine Beine gaben nach, und er stürzte hin.
»Sie haben Besuch, Mr. O’Meara. Ein junger Mann. Er wartet oben auf Sie.«
Joe saß oberhalb des Treppenabsatzes von Roddys Wohnung und hörte ihn und seine Vermieterin unten im Gang miteinander reden. Dann ertönten Roddys schwere Schritte auf den Stufen, und er kam herauf. Er trug seine Polizistenuniform und eine Tüte mit Lebensmitteln. Seit Joe ihn zum letztenmal gesehen hatte, schien er gealtert zu sein. Der Verlust von Paddy und der übrigen Familie mußte ihm schwer zugesetzt haben. Joe wußte, daß sie mehr als nur Freunde waren. Sie waren seine Familie. Die einzige, die er hatte. Trauer, Schuldgefühle und Reue, seine ständigen Begleiter inzwischen, stiegen in ihm auf. Seit er am Tag zuvor Lucy Brady aufgesucht hatte, hatte er weder geschlafen noch gegessen. Es war alles seine Schuld.
»Hallo, Roddy.«
»n’ Abend«, antwortete Roddy. Sein Gesichtsausdruck sagte Joe, daß er nicht erfreut war, ihn zu sehen. »Du siehst beschissen aus, Junge, ehrlich gesagt«, begann er. »Kriegst du bei deiner Frau nichts zu essen?« Er öffnete die Tür zu seiner Wohnung, ließ ihn eintreten und bot ihm einen Platz an, aber Joe blieb stehen.
»Roddy, ich … ich muß Fiona sehen. Ist sie da?«
»Nein«, erwiderte Roddy, zog seine Jacke aus und hängte sie über einen Stuhl.
»Weißt du, wo sie ist?«
»Nein.«
Joe glaubte ihm nicht. »Ach komm, Roddy.«
»Ich hab doch gesagt, daß ich nicht weiß, wo sie ist.«
»Du weißt es nicht? Du hast doch für sie gesorgt, dich um sie gekümmert.«
Roddy drehte sich um und sah ihn zornig an. »Ja, das hab ich getan. Und das ist mehr, als ich von einigen anderen sagen kann!«
Joe blickte zu Boden. »Hör zu, Roddy … ich weiß, ich war gemein zu ihr. Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich möcht bloß wissen, ob’s ihr gutgeht. Ich möcht sie bloß sehen. Sag mir, wo sie ist. Bitte.«
»Ich sag dir die Wahrheit, Junge. Ich weiß nicht, wo sie ist.«
Joe wollte weiter in ihn dringen, als er sah, daß Roddys Ausdruck nicht zornig, sondern besorgt wirkte. Irgend etwas stimmte nicht.
»Was ist?« fragte er. »Was ist los?«
»Das würd ich selbst gern wissen.« Roddy setzte sich an den Tisch und goß sich ein Glas Bier aus einem Krug ein. »Ich muß sagen, Junge, daß ich ziemlich enttäuscht von dir bin.« Er schob Joe den Krug hin, aber der lehnte kopfschüttelnd ab. »Nun setz dich doch endlich.« Joe tat, wie ihm befohlen wurde, und Roddy fuhr fort. »Fiona war hier. Sie und Seamie.«
Joe nickte. »Ich war gestern bei Lucy Brady. Sie hat mir erzählt, was passiert ist.«
»Sie hat bei mir gewohnt, nachdem ihre Mutter umgebracht worden ist. Es hat eine Weile gedauert, bis sie wieder auf den Beinen war, aber nach ein paar Wochen hatte sie’s geschafft. Sie wollte sich nach Arbeit und einem eigenen Zimmer umsehen, und dann bin ich eines Abends heimgekommen und auf dem Tisch lag ein Zettel, daß sie fortgegangen sei. Einfach so. Daß sie Geld von Burton’s bekommen habe – die Entschädigung für Paddys tödlichen Unfall – und daß sie gleich fortwolle, ohne langes Abschiedsgetue. Sie hat nicht geschrieben, wohin sie will.«
»Das hört sich gar nicht nach ihr an. Warum sollte sie nicht wollen, daß du weißt, wohin sie geht?«
»Zuerst hab ich gedacht, sie ist mit dir durchgebrannt und wollte sich nicht von mir aufhalten lassen. Aber jetzt sitzt du hier, und damit hat sich die Vermutung als falsch erwiesen.«
»Was glaubst du jetzt?«
Roddy nahm einen Schluck Bier und setzte sein Glas wieder ab. »Keine Ahnung. Nichts ergibt einen Sinn, verdammt.«
»Roddy, sie ist irgendwo ganz allein«, sagte Joe eindringlich. »Wir müssen sie finden.«
»Ich hab’s versucht! Ich hab alle Leute von meinem Revier auf sie angesetzt. Ich hab an praktisch jedem Bahnhof in der Stadt eine Beschreibung von ihr und Seamie hinterlassen, aber ich hab nichts gehört. Kein Mensch hat sie gesehen.«
»Wie wär’s mit einem Privatdetektiv?«
»Daran hab ich auch gedacht, aber ich hab kein Geld dafür.«
»Aber ich. Nenn mir eine Adresse. Ich heuer gleich heute abend noch einen an. Sie muß in London sein. Sicher hat sie keinen Zug genommen, sie wüßte ja gar nicht, wohin. Sie ist noch nicht mal Bus gefahren, bevor ich sie nach Covent Garden mitgenommen hab. Sie kann nicht weit gekommen sein.«
Roddy schrieb
Weitere Kostenlose Bücher