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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Aprilabend um neun, hell erstrahlte.
    Die Häuser kündeten von einer soliden Gleichförmigkeit, die vielleicht ein wenig phantasielos, aber über jeden Tadel erhaben und von ihren Bewohnern angestrebt war: Emporkömmlinge der Mittelklasse, die sich genauso vornehm und respektabel geben wollten wie ihre alteingesessenen Nachbarn mit altem Geld in Belgravia und Knightsbridge. Es gab nichts Aufdringliches, nichts Ungehöriges und Unschickliches. Es lag kein Abfall auf der Straße, es gab keine Stadtstreicher und keine streunenden Hunde. Es war so still wie auf einem Friedhof, so erstickend wie in einem Sarg, und Joe Bristow haßte schon den bloßen Anblick.
    Er sehnte sich nach der Farbe und der Lebendigkeit der Montague Street. Wenn er abends nach Hause kam, vermißte er das aufgeregte Geschrei seiner Geschwister, die spöttischen Witze seiner Kumpel, die Fußballspiele auf den groben Pflastersteinen. Vor allem vermißte er es, zu Nummer acht hinaufzugehen, zu dem schwarzhaarigen Mädchen, das auf der Haustreppe saß, mit ihrem Bruder spielte und den Nähkorb neben sich unbeachtet stehen ließ. Er vermißte es, ihren Namen zu rufen, zu beobachten, wie sie den Kopf hob und sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Für ihn.
    Seine Kutsche, eine schwarze Kalesche, die von einem edlen Braunen gezogen wurde, beides Hochzeitsgeschenke seines Schwiegervaters, hielt vor der Einfahrt des Hauses an. Seine Schritte beschleunigten sich nicht, als er auf die Tür zuging, und das Herz wurde ihm nicht warm vor Freude, seine Frau zu sehen. Er hoffte nur, sie schliefe schon, ebenso die Dienstboten, an deren Gegenwart er sich nicht gewöhnen konnte. Der Anblick seiner Haushälterin, die aufgeregt oben an der Treppe auf und ab ging, zeigte ihm, daß es nicht so war.
    »O Mr. Bristow! Gott sei Dank, daß Sie endlich zu Hause sind, Sir!« rief sie.
    »Was ist denn, Mrs. Parrish? Was machen Sie denn hier draußen? Wo ist Mathison?«
    »In der Vorratskammer, Sir, um nach einem zweiten Schlüssel für Ihr Arbeitszimmer zu suchen.«
    »Warum …«
    Das Bersten von Glas schnitt Joe das Wort ab.
    »Es ist Mrs. Bristow, Sir. Sie hat sich in Ihr Arbeitszimmer eingeschlossen und will nicht rauskommen«, stieß Mrs. Parrish atemlos hervor. »Ich dachte, sie sei im Bett. Ich bin gerade in mein Zimmer raufgegangen, als ich einen Knall hörte. Ich bin wieder runtergerannt … Ich … ich weiß nicht, was los ist … sie ist … wahnsinnig geworden! Sie hat Ihre Papiere rumgeworfen und Sachen zerschmissen. Ich hab sie nicht aufhalten können. Ich hab’s versucht, aber sie hat mich rausgedrängt. O bitte, Sir, gehen Sie zu ihr rauf. Beeilen Sie sich, bevor dem Baby was passiert!«
    Joe raste in den ersten Stock hinauf. Millie ging es schlecht, seitdem sie vor über zwei Monaten aus den Flitterwochen zurückgekehrt waren. Ihre Schwangerschaft nahm einen schwierigen Verlauf. Letzten Monat hatte sie zu bluten begonnen und das Baby beinahe verloren. Der Arzt hatte angeordnet, im Bett zu bleiben.
    Während er in seiner Tasche nach dem Schlüssel suchte, hörte er Schluchzen aus dem Zimmer dringen und eine Reihe dumpfer Geräusche, als wäre ein Stapel Bücher umgefallen. Er sperrte auf und sah, daß sein ganzes Arbeitszimmer verwüstet war. Überall lagen Papiere herum, ein Bücherregal war umgestürzt, die Scheiben seines Sekretärs waren eingeschlagen. Inmitten des Zerstörungswerks stand Millie mit tränenüberströmtem Gesicht und offenem Haar, unter ihrem Nachthemd wölbte sich ihr Bauch nach vorn. Sie hielt ein Bündel Papiere in der Hand. Er erkannte sie. Es waren die Berichte eines Privatdetektivs, den er angeheuert hatte, um Fiona zu finden.
    »Geh wieder ins Bett, Millie. Du weißt doch, daß du nicht auf sein sollst.«
    »Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie unter Tränen, »also bin ich aufgestanden, um nachzusehen, ob du zu Hause bist. Dann hab ich das hier auf deinem Schreibtisch gefunden. Du suchst nach ihr, nicht wahr? Sie ist umgezogen … oder aus London weggezogen, und du versuchst, sie zu finden.«
    Joe antwortete ihr nicht. Sie hatte die Papiere nicht auf seinem Schreibtisch gefunden, weil sie in seinem Sekretär eingeschlossen waren. Er hielt es nicht für ratsam, jetzt darüber zu diskutieren, denn er wußte nur zu gut, wie es war, wenn sie wütend wurde. »Komm, Millie, du weißt doch, was der Arzt …«
    »Antworte mir, verdammt noch mal!« schrie sie und warf die Papiere nach ihm.
    »Ich werde jetzt nicht

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