Die Teerose
ersetzt. Er hielt ihn in der Hand und war sich sicher, daß Fiona nicht mehr in London und für immer fortgegangen war. Aber wohin? Auch Benjamin glaubte, daß sie die Stadt verlassen hatte. Das machte es ungemein schwierig, sie zu finden. Sie hatte keine Familie, keine Freunde außerhalb von London, was hieß, daß es keinen einzigen wahrscheinlichen Anlaufpunkt für sie gab. Sie konnte überall sein. Benjamin ermutigte ihn, die Hoffnung nicht aufzugeben. Er war sich sicher, daß es außer dem Pfandleiher noch jemanden gab, der gesehen hatte, wie sie aus Whitechapel fortging. Er würde mit den Droschkenfahrern auf der Commercial Road reden und herausfinden, ob sich einer an sie erinnerte und, wenn sie Glück hatten, wohin er sie gefahren hatte.
Joe wußte, daß Benjamin sein Bestes geben würde, aber das Warten brachte ihn um. Die Vorstellung, daß die Person, die er am meisten liebte, sich an niemanden wenden konnte und vielleicht in schrecklichen Schwierigkeiten war, beschäftigte ihn Tag und Nacht.
Er sah Millie an, die, auf spitzenbesetzte Kissen gestützt, an der weißen Seide des Taufkleids herumstichelte, und spürte erneut, welch absurde Wendung sein Leben genommen hatte. Das alles hätte nicht passieren dürfen. Er sollte eigentlich nicht in diesem Haus, nicht mit dieser Frau verheiratet sein, sondern in Whitechapel bei Fiona. Sie hätten gerade ihren ersten Laden eröffnet und würden jede Minute arbeiten, um ihm zum Erfolg zu verhelfen. Es wäre schwer, ein ständiger Kampf, aber es wäre alles, was er sich je erträumt hatte. Abends mit ihr am Tisch zu sitzen und die Ereignisse des Tages mit ihr zu besprechen. Mit ihr im gleichen Bett zu schlafen und sie im Dunkeln langsam und zärtlich zu lieben. Zu hören, wie jemand sie Mrs. Bristow nannte. Ihr gemeinsames Kind auf den Knien zu schaukeln und seiner und ihrer Mutter zuzuhören, die sich stritten, welcher Seite der Familie das Kind mehr nachschlug.
»Joe, mein Lieber? Was gefällt dir besser? Annabelle oder Lucy?«
Millies Stimme riß ihn aus seinen Tagträumen. »Was, Millie? Tut mir leid, ich hab übers Geschäft nachgedacht.«
»Ich hab dich gefragt, welcher Mädchennamen dir besser gefällt. Wenn’s ein Junge wird, möchte ich ihn Thomas nennen, nach meinem Vater. Thomas Bristow. Ich finde, das klingt gut. Ich bin sicher, daß es ein Junge wird. Das hab ich im Gefühl. Ich …« Millie hielt inne und drückte die Hände auf den Bauch.
Joe sprang auf, und der Aktenordner fiel ihm vom Schoß. »Millie, was ist? Stimmt was nicht? Soll ich den Arzt holen?« fragte er aufgeregt.
Sie sah ihn an. »Nein …«, antwortete sie langsam und sah ihn verwundert und freudig lächelnd an. »Mir geht’s gut. Das Baby hat gerade gestrampelt. Fühl doch, Joe. Ich hab’s gespürt.« Sie griff nach seiner Hand und drückte sie auf ihren Bauch. Er spürte nichts. Sie sah ihn an, aber ihr Blick war nach innen gerichtet. »Da«, flüsterte sie aufgeregt. »Hast du’s gespürt?« Er hatte immer noch nichts gespürt. Sie preßte seine Hand fester auf ihren Bauch, und plötzlich fühlte er es. Ein winziger Ellbogen, ein Knie oder vielleicht eine Ferse. Eine kleine ungestüme Bewegung. Das Baby – sein Baby – wurde mit einemmal zu einer Wirklichkeit.
Er wurde von starken Gefühlen gepackt – väterlichen Gefühlen, aber auch von unendlicher Verzweiflung. Mit schrecklicher Gewißheit wurde ihm bewußt, daß er dieses Kind lieben würde, dennoch wünschte er sich, es wäre nie in sein Leben getreten. Seine Zukunft – als Vater dieses Kindes, als Millies Ehemann – trat ihm vor Augen. Tränen stiegen in ihm auf, Tränen der Liebe und der Trauer um dieses Kind, das zwar das seine war, aber nicht ihm und Fiona gehörte, um sein hoffnungslos leeres Leben. Er versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Er hörte Millie, das Knistern ihres seidenen Nachthemds, als sie sich ihm zuwandte.
»Scht«, flüsterte sie und küßte ihn. »Es ist alles gut. Du wirst das Baby lieben, Joe. Bestimmt. Und das Baby wird dich lieben. Das tut es jetzt schon. Und wenn es da ist, wirst du vielleicht auch mich lieben. Und dann werden wir eine Familie sein, und alles wird gut.«
»Mr. Bristow?«
Die Stimme des Arztes holte Joe aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Er sah auf. »Wie geht’s ihr?« fragte er.
»Sie hat es sehr schwer gehabt, aber ihr fehlt nichts.«
Erleichterung überkam ihn. »Und das Baby?«
»Ich fürchte, es ist eine Totgeburt. Wir konnten die
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