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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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verrückt geworden war. Er kam zu spät zu einem Abendessen bei Delmonico’s, was er sich nicht leisten konnte. Es handelte sich um ein privates Abendessen, zu dem der Bürgermeister eingeladen hatte. Viele der führenden Finanziers der Stadt wären anwesend, und es wäre das perfekte Forum, um seine Pläne für eine Untergrundbahn vorzutragen und Interesse und Begeisterung bei genau den Leuten zu wecken, deren Unterstützung für das Projekt unabdingbar war.
    Und was machte er? Er saß auf der gottverlassenen West Side vor einem kleinen Lebensmittelladen in seiner Kutsche und hoffte, einen Blick vom Gesicht der jungen Frau zu erhaschen, die er nicht mehr vergessen konnte, seit er sie vor einer Woche in seiner Bank gesehen hatte. Ein Gesicht voller Widersprüche – gleichzeitig ängstlich und entschlossen, offen, stark und doch verletzbar. Das faszinierendste Gesicht, das er je gesehen hatte.
    Auf dem Weg zum Abendessen, als er die Fifth Avenue hinauffuhr, ließ er seinen Kutscher plötzlich nach links abbiegen. Martin zog die Augenbrauen hoch bei der Adresse, die er ihm nannte. »Sind Sie sicher, Sir?« fragte er. Als Will dies bejahte, schüttelte Martin den Kopf, als wollte er sagen, er verstehe ihn nicht mehr. Will wußte, was er meinte, er verstand sich ja selbst nicht. Er wußte nicht, warum er das Geld seiner Bank für ein Mädchen mit guten Ideen, aber keinerlei Erfahrung riskierte. Oder warum er seine Sekretärin vier Tage lang losschickte, um an den Zeitungskiosken nach einer Ausgabe des Chelsea Crier zu suchen, die Fionas Anzeige enthielt, damit er sie in die World setzen konnte.
    Er wußte nicht, warum er hundertmal am Tag an ein Mädchen dachte, das er nicht einmal kannte. Oder warum er sich, trotz seines ausgefüllten Lebens – sowohl geschäftlich als auch familiär –, plötzlich so unendlich einsam fühlte.
    Mit seinen fünfundvierzig Jahren kannte sich William McClane eigentlich ganz gut. Er wußte über seine Motive Bescheid, kannte seine Ziele. Er war ein gewitzter, rational denkender Mann, der seine Intelligenz und seinen brillanten Geschäftssinn eingesetzt hatte, um aus kleinen Anfängen ein riesiges Vermögen zu schaffen. Er war ein äußerst disziplinierter Mensch und stolz darauf, sich nur von Tatsachen und Logik statt von Gefühlen und Phantastereien leiten zu lassen.
    Also was um alles in der Welt machte er hier? Heimlich auf der Lauer wie ein alter Schwerenöter?
    Auf dem Weg hierher hatte er sich eingeredet, er achte nur auf sein Geschäft, kümmere sich um seine Investitionen, wolle nur sichergehen, daß Miss Finnegan den richtigen Anfang machte. Schließlich war ein Laden keine einfache Sache für eine junge Frau. Doch als die Minuten verstrichen, der Zeiger seiner Uhr immer näher an sieben rückte und sie immer noch nicht auftauchen wollte, zwang ihn das unbehagliche Gefühl, das ihn überkommen hatte, zuzugeben, daß sein Besuch nichts mit seinen Bankgeschäften, sondern nur mit dem verzweifelten Blick in ihren Augen zu tun hatte, nachdem sie von Ellis abgewiesen worden war, mit der rührend tapferen Art, mit der sie den Kopf hochhielt und die Tränen unterdrückte, als er sie ansprach, und der aufrichtigen Erleichterung in ihrem Gesicht, als er ihr sagte, sie könne den Laden übernehmen.
    Er mußte herausfinden, ob es ihr gutging. Daß alles gut für sie lief, denn andernfalls wollte er derjenige sein, der alles ins Lot brachte. Sie hatte Gefühle in ihm ausgelöst, Beschützerinstinkte, aber auch tiefere, unbekanntere. Gefühle, die er nicht verstand und nicht benennen konnte.
    Er sah auf seine Uhr. Es war genau sieben, er sollte sich wirklich auf den Weg machen. Nicht nur, daß er zu spät zu Delmonico’s kam, er erregte auch Aufmerksamkeit. Sein in England gefertigter Brougham kostete leicht das Doppelte der umliegenden Häuser, und die Leute blieben stehen und starrten den Wagen an. Und zu seinem Entsetzen auch ihn, der Abendkleidung trug. Bei Delmonico’s oder vor der Oper hätte niemand zweimal hingesehen, aber hier, in dieser Arbeitergegend, machte er sich zum Spektakel. Und das war etwas, was ein Mann seiner Herkunft und Manieren nicht tat.
    Gerade wollte er Martin das Zeichen zum Weiterfahren geben, als die Ladentür aufging und eine junge Frau in langer weißer Schürze heraustrat. Sein Herz machte einen Freudensprung bei Fionas Anblick. Sie steckte das Ende einer langen Stange in eine Metallöse über der Tür und begann, die Markise einzurollen. Und bevor er

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