Die Teerose
Speisesaal bin, Mr. McClane?«
»Natürlich, Cameron.«
»Genießen Sie Ihr Essen, Sir.« Er stolzierte davon.
»Das war nicht klug, Nellie. Jetzt sagt er dem Chef Bescheid und läßt Sie rauswerfen.«
»Dessen bin ich mir sicher. Warum sollte es in seinem Club anders zugehen als in seinem Gerichtssaal? Da wirft er mich ständig raus, dieser blasierte Idiot«, antwortete sie. »Tut mir leid. Ich weiß, daß er Will juniors Freund ist.«
Will zuckte die Achseln. »Trotzdem ist er ein blasierter Idiot.« Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Hallo, Vater. Nellie«, sagte eine Stimme. Will drehte sich um und lächelte einen kräftig gebauten weizenblonden fünfundzwanzigjährigen Mann an, der neben ihm stand – sein ältester Sohn. Als Will ihn begrüßte und sich wie immer freute, eines seiner Kinder zu sehen, war er einen Moment lang erstaunt, wie sehr er seiner verstorbenen Mutter glich. Je älter er wurde, um so mehr erinnerte er ihn an Anna und ihre holländischen Vorfahren, deren hellen Teint, das helle Haar und die nüchtern sachliche Art er geerbt hatte.
»Ich bin mit Cameron verabredet. Hast du ihn gesehen?« fragte Will junior. Cameron und Will junior waren gemeinsam in Hyde Park am Hudson aufgewachsen, hatten gemeinsam in Princeton studiert und waren den gleichen Clubs und Verbindungen beigetreten. Beide waren inzwischen verheiratet, lebten mit ihren Familien im Hudson Valley und besaßen Appartements in der Stadt, wo sie die Woche über wohnten.
»Er ist im Speisesaal«, antwortete Will.
»Gut«, sagte Will junior. Er wandte sich an Nellie. »Wieder hinter einem Sensationsartikel her?«
»Ich nehme das als Kompliment.«
»Mit solchen Geschichten könnten Sie die Karriere eines Mannes ruinieren.«
»Das schafft Cameron ganz allein. Dazu braucht er meine Hilfe nicht.«
Seit Cameron Eames im letzten Januar zum Richter an einem der Strafgerichte der Stadt bestellt worden war, hatte er mit einer vielbeachteten Kampagne zur Säuberung New Yorks begonnen. Im Gegensatz zu dem überschwenglichen Lob, das er in den meisten Zeitungen dafür bekam, hatte Nellie, eine Reporterin der World, einen Artikel über einen kleinen polnischen Jungen aus der Lower East Side geschrieben, den Cameron in die Tombs, das Gefängnis von Manhattan, geschickt hatte, weil er einen Laib Brot gestohlen hatte. Obwohl der Diebstahl seine erste Verfehlung war, wurde er mit einer Gruppe Gewohnheitsverbrecher eingesperrt. Am nächsten Morgen fanden die Wachen den Jungen unter einer Matratze im hinteren Teil der Zelle. Er war angegriffen – eine höfliche Bezeichnung für Vergewaltigung – und erstickt worden. Will drehte sich der Magen um, als er den Artikel las. Er fragte sich, wie Cameron so dumm sein konnte.
»Cameron stand vor einer moralischen Entscheidung, und er hat sie getroffen«, verteidigte Will junior seinen Freund.
Nellie lachte. »Ach bitte, McClane. Je mehr sogenannte Kriminelle er einsperrt, desto mehr Presse kriegt er. Das wissen wir doch beide. Cameron wird nicht von Moral, sondern von Ehrgeiz angetrieben.«
»Na schön, Nellie, Cam ist ehrgeizig. Das sind Sie und ich auch. Daran ist doch nichts Falsches«, erwiderte Will junior aufgebracht. »Er möchte der jüngste Richter sein, der je an den Obersten Gerichtshof berufen wurde. Das wird er schaffen, trotz Ihrer Versuche, ihn anzuschwärzen. Seine Kampagne ist ein Erfolg. Er bringt in einem Jahr mehr Kriminelle hinter Gitter als sein Vorgänger in den letzten drei.«
Will sah seinen Sohn lange an. »Alles Kleinkriminelle, wie ich höre. Cameron müßte das Problem an der Wurzel packen, wenn er was ändern wollte, Sohn – die Spielhallenbesitzer, die Bordellbesitzerinnen, die Gangsterbosse. Und die Polizisten, die Bestechungsgelder von ihnen annehmen.«
Will junior schnaubte. »Ich sagte, Cameron ist ehrgeizig, Vater, nicht verrückt. Wichtig ist doch, daß er das Gesindel einsperrt und damit die Straßen für uns alle sicherer macht.«
»Ein weiser Richter kennt den Unterschied zwischen Raub, um sich zu bereichern, und Mundraub.«
»Du bist zu weichherzig, Vater«, antwortete Will junior ärgerlich, der sich nicht gern mit feinen Unterschieden aufhielt, sondern immer zu Schwarzweißzeichnungen neigte. »Stehlen ist Stehlen. Die Einwanderer überrennen die Stadt. Man muß ihnen beibringen, daß ihre Verachtung für das Gesetz hier nicht toleriert wird.«
»Leicht gesagt, wenn Sie nie Hunger gelitten haben«, antwortete Nellie.
»Und wie steht’s
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